So., 24.10.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Angst vor der EU-Milch
Die europäischen Bauern produzieren mehr Milch als die europäischen Verbraucher schlucken können. Wohin also mit dem überflüssigen Flüssigem? Wegschütten kommt nicht infrage, dafür ist die Milch zu schade und zu teuer. Stattdessen geht sie in den Export – und gefährdet die Existenz kleiner Milchbauern in Entwicklungsgebieten.
Sambia, tief im Inneren des südlichen Afrika, ist ein Entwicklungsland. Nicht nur was die Einkommensverhältnisse angeht – zwei Drittel der Einwohner verdienen gerade einmal einen Euro am Tag – auch im wörtlichen Sinne: Es entwickelt sich.
Eine der in jüngeren Jahren entstandenen Wachstumsbranchen ist die Milchwirtschaft. Und Wachstumspotenzial ist zweifellos weiter vorhanden, der Pro-Kopf-Verbrauch beträgt zurzeit weniger als acht Liter pro Jahr.
Gestützt wird die aufstrebende Milchindustrie vor allem durch Kleinbauern, Viehhalter wie John Mwemba. Der ehemalige Lehrer pflegt und versorgt mit seiner Familie eine siebenköpfige Kuhherde. Dieser Nebenerwerb bringt der Familie rund 200 Euro im Monat. Genug für Essen, Krankenbehandlung und vor allem genug, dass die Kinder die Schule besuchen können, statt zu arbeiten.
Aufbau mit europäischer Hilfe
Der Verkauf der Milch wird über eine Genossenschaft abgewickelt, die Mwemba mit einer Handvoll Kollegen 1997 gegründet hat. Anschubhilfe dafür gab es von der "Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit". Sie ermöglichte es den Bauern Tiere zu erwerben und zu halten. Mittlerweile hat die Genossenschaft mehr als 340 Mitglieder.
Hauptabnehmer der Genossenschaft ist Parmalat Zambia, ein Tochterunternehmen des italienischen Lebensmittelriesen Parmalat. Der hatte schon in den neunziger Jahren das Land als interessanten Wachstumsmarkt für sich entdeckt. Der Preis, den der Konzern den Bauern für ihre Milch zahlt, ist gut: in Spitzenzeiten rund 40 Cent pro Liter; ein Erlös von dem europäische Bauern nur träumen können.
Das europäische Dilemma
Anders als der sambische ist der EU-Milchmarkt streng reguliert. Die Preise werden in erster Linie durch die großen Handelskonzerne vorgegeben, die Produktionsmengen durch die sogenannte Milchquote. Praktisch bedeutet das für die europäischen Milchbauern: Es wird ihnen die Abnahme einer gewissen Menge an Milch garantiert, die sie jedoch auch nicht überschreiten dürfen. Aber da der Preis, den sie für ihre Milch bekommen, ebenfalls von außen vorgegeben wird, gibt es keine Garantie, dass die so erzielten Einnahmen auch ein ausreichendes Einkommen erlauben. Ausreichend wären nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter 43 Cent pro Liter.
Nach Plänen der EU-Kommission soll das quasi-planwirtschaftliche Milchquotenmodell zum 31. Dezember 2015 auslaufen. In Vorbereitung darauf wird seit 2008 die erlaubte Produktionsmenge bis 2013 jedes Jahr um ein Prozent angehoben. Das Problem dabei: Nur weil plötzlich noch mehr Milch angeboten wird, verzehren die europäischen Verbraucher aber nicht auch mehr Milchprodukte. Wohin also mit dem Überschuss?
Ex(port) und hopp
Die EU-Agrarminister sahen den Ausweg im Export. Um die europäische Milch auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu machen, beschlossen sie daher im Januar 2009 eine "Ausfuhrerstattung" für Milch und Milchprodukte. Insbesondere um mit den weltweit exportierenden Milchkonzernen Neuseelands konkurrieren zu können. Denn große Farmen und ein gleichmäßiges Klima, das die Viehhaltung in unbeheizten Ställen und Grünfutter zu jeder Jahreszeit zulässt, ermöglicht es den Milchbauern dort selbst bei Preisen unter 20 Cent pro Liter noch kostendeckend zu arbeiten.
Die Marktreaktionen auf den EU-Beschluss: Die USA setzten für ihre Milchindustrie ebenfalls Exportsubventionen fest. Potenzielle Käuferländer wie Russland erhöhten daraufhin die Einfuhrzölle auf Milchpulver und Butter, um die eigene Milchwirtschaft zu schützen.
Kein Schutz für Afrika
Ein Ausweg, der Sambia und anderen afrikanischen Staaten nicht zur Verfügung steht. In gegenseitigen Handelsabkommen mit der EU hatten sie sich verpflichtet, Schutzzölle weitgehend abzubauen. Im konkreten Falle Milchprodukte beträgt die maximal zulässige Höhe des Einfuhrzolls 15 Prozent.
Folge: Die Milchpreise in Afrika fallen durch den Druck des Weltmarkts. Wenn auch nicht in dem Maße wie von einigen Kritikern zunächst befürchtet. Denn eine wachsende Nachfrage in Asien, vor allem in China, hat in jüngster Zeit große Teile der weltweiten Überproduktion aufgenommen und so die Weltmarktpreise auf einem soliden Niveau stabilisiert.
Doch womöglich ist das nur eine Atempause, bevor die weiße Flut aus Europa die sambischen Milchbauern aus dem Markt spült – und europäische Agrarpolitik das vernichtet, was europäische Entwicklungshilfe einst aufgebaut hat.
Autor: Thomas Wagner (NDR)
Stand: 29.07.2015 10:54 Uhr