So., 21.11.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Erblindung durch Parasiten-Infektion
Tobias' linkes Auge ist von Geburt an praktisch blind und auch sein rechtes Auge droht zu erblinden: Auf der Netzhaut haben sich deutliche Narben gebildet, ausgerechnet im Bereich des schärfsten Sehens. Vor etwa zwei Jahren kam der heute 14-Jährige in die Augenklinik der Berliner Charité, da lag die Sehkraft seines "guten" Auges bei gerade noch 20 Prozent. Der Charité-Experte Uwe Pleyer fand im Augenwasser des Jungen Antikörper gegen Toxoplasma gondii, einem winzigen, einzelligen Parasiten, der weit verbreitet ist und gemeinhin als harmlos gilt.
Doch offenbar stimmt das nur bedingt: "Toxoplasmose ist die häufigste Ursache einer infektiösen Netzhautentzündung", sagt Pleyer. Die als Uveitis bekannte Krankheit führt nicht selten zur Erblindung. Nachdem er den Parasiten als Verursacher ausgemacht hatte, startete der Augenarzt bei Tobias eine Dauerbehandlung mit Antibiotika und Entzündungshemmern. Mit Erfolg: Inzwischen liegt die Sehkraft des rechten Auges von Tobias wieder bei über 80 Prozent.
Der Parasit nistet sich dauerhaft ein
Endgültig gerettet ist Tobias Augenlicht nicht, denn die Medikamente können die Krankheit nur kontrollieren, nicht heilen. Die Toxoplasma-Erreger lassen sich, einmal im Körper, nicht mehr vollständig eliminieren.
Normalerweise sorgt das Immunsystem dafür, dass sich die bei einer akuten Infektion auftretenden aggressiven Erreger schnell in Zysten einkapseln. In dieser als harmlos geltenden Form verbleiben die Erreger lebenslang im Körper. Schätzungsweise ein Drittel aller Menschen tragen die Zysten im Körper. Reaktiviert werden sie allenfalls bei Immunschwäche, etwa bei HIV-Patienten oder bei Organtransplantationen.
Doch auch bei Tobias müssen Antibiotika die Erreger in Schach halten. Die Medikamente tun das, was normalerweise das Immunsystem bewirkt: Sie stoppen die Vermehrung der Erreger und sorgen so dafür, dass sie sich wieder in Zysten einkapseln.
Lebensgefahr für das Ungeborene
Dass Tobias' Immunsystem die Erreger nicht kontrollieren kann, liegt daran, dass er bereits vor der Geburt infiziert wurde. "Bei den Patienten, die während der Schwangerschaft im Mutterleib infiziert werden gibt es eine scheinbar sehr starke, an die Nerven orientierte Infektion, die sowohl das Nervensystem, als auch das Auge als Teil des Nervensystems betrifft“, erläutert Pleyer.
Der für die meisten Menschen harmlose Erreger wird zu einer Bedrohung für das ungeborene Kind, sofern sich die Mutter während der Schwangerschaft erstmals mit ihm infiziert. Das passiert bei etwa sechs von 1000 Frauen. Auch wenn die Mutter die Infektion nicht bemerkt, kann es dabei zu einer Übertragung auf den Fötus kommen.
So war es auch bei Tobias, der noch Glück im Unglück hatte: Die Folgen hätten noch dramatischer sein können: Die Toxoplasma-Erreger können den Fötus sogar töten oder zu schweren Behinderungen führen. Doch auch wenn bei der Geburt nichts erkennbar ist, wie bei Tobias, drohen noch Jahre später Folgen: "Bis zu 80 Prozent der im Mutterleib infizierten leiden später unter Augenbeschwerden", sagt Uwe Pleyer.
Jährlich werden in Deutschland etwa 1.000 Kinder vor der Geburt mit Toxoplasma infiziert, schätzt Uwe Groß, Leiter des Nationalen Konsiliarlabors Toxoplasmose an der Universität Göttingen. "60 bis 100 davon zeigen schon bei der Geburt klinische Syptome, weitere 500 entwickeln Spätkomplikationen."
Krankenkassen zahlen den Bluttest nicht
Genaue Zahlen gibt es nicht, denn ein Bluttest auf Antikörper gegen Toxoplasma gehört in Deutschland nicht zur üblichen Schwangerschaftsvorsorge. Ein generelles Toxoplasma-Screening wie etwa in Frankreich und Österreich findet hierzulande nicht statt. Die Mutterschaftsrichtlinien sehen eine Blutuntersuchung nur bei "begründetem Verdacht" vor. Folge: Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen den Test nicht, er wird von Frauenärzten meist als privat finanzierte "individuelle Gesundheitsleistung" (IGeL) für circa 20 Euro angeboten.
Experten raten zu einem Bluttest auf Toxoplasma-Antikörper möglichst vor oder zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft. Für etwa ein Drittel aller Frauen bringt er Entwarnung: Sie haben sich bereits zuvor mit dem Toxoplasmose-Erreger infiziert und Antikörper gebildet. Ihnen droht daher keine akute Infektion mehr und ihrem Baby auch nicht.
Ohne Antikörper besteht Gefahr
Doch die meisten Frauen sind negativ, haben also noch keine Antikörper im Blut. Sollten sie während der Schwangerschaft erstmals Bekanntschaft mit Toxoplasma machen, wäre ihr Kind in Gefahr. Eine mögliche Infektion muss so früh wie möglich entdeckt werden, damit der Frauenarzt Mutter und Kind schnell behandeln kann.
Noch konnten die Erfolgsaussichten einer Behandlung wissenschaftlich nicht eindeutig belegt werden; ohne unbehandelte Kontrollgruppe lässt sich der Effekt der Behandlung kaum nachweisen. Doch ein solcher Versuch ist aus ethischen Gründen undenkbar. Uwe Groß ist jedoch davon überzeugt, "dass bei rechtzeitiger und adäquater Therapie ein signifikanter Vorteil nachweisbar ist". Dabei stützt er sich auf 700 Fälle von Schwangeren mit einer akuten Infektion, die er retrospektiv untersucht hat.
Ohne Therapie kommt es in jedem zweiten Fall zu einer Übertragung auf das Kind, schätzt Ingrid Reiter-Owona vom Institut für Medizinische Parasitologie der Universität Bonn. Fest steht: Die Therapie kann nur erfolgreich sein, wenn sie rechtzeitig beginnt. Eine akute Infektion muss daher so früh wie möglich erkannt werden. Dazu muss der Bluttest regelmäßig wiederholt werden. Doch die Gynäkologen haben hier keine einheitliche Linie. Manche testen zwei Mal, manche drei Mal, andere gar nicht.
Hohe Dunkelziffer bei Schäden durch Toxoplasma
Viele Experten empfehlen mindestens eine Untersuchung pro Schwangerschaftsdrittel. "Sicherer wäre ein monatlich wiederholter Test", meint Reiter-Owona. Doch nur eine Minderheit von Frauen lasse sich überhaupt testen, mit abnehmender Tendenz. Akute Infektionen während der Schwangerschaft werden daher nur in Ausnahmefällen erkannt und viele durch Toxoplasma verursachten Schäden bei Kindern nicht auf den Parasiten zurückgeführt.
Schwangere Frauen sollten sich auf jeden Fall durch gewisse Vorsichtsmaßnahmen schützen. Dazu gehört strikte Hygiene im Haushalt. Gemüse und Salat sollten immer gründlich gewaschen werden. Die Toxoplasma-Erreger schlummern vielerorts im Erdreich, in das sie durch den Kot infizierter Katzen gelangen. Handschuhe bei der Gartenarbeit und gründliches Hände waschen senken das Risiko einer Infektion daher auch.
Kein rohes Fleisch während der Schwangerschaft
Am wichtigsten ist aber der Verzicht auf rohes Fleisch. Mettwurst und Salami sind tabu, Steaks sollten immer ganz durchgebraten werden, denn erst bei einer Temperatur von über 67° C sterben auch Dauerstadien in Gewebszysten innerhalb von ein bis zwei Minuten ab.
Tobias Mutter wusste von all dem nichts: Ihre Frauenärztin wies sie nicht einmal auf das Risiko einer Toxoplasmose hin. Ihr Sohn wird daher zeitlebens mit den Folgen der Parasiteninfektion leben müssen.
Autor: Güven Purtul (NDR)
Stand: 21.07.2015 14:13 Uhr