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Hüfte mit Sollbruchstelle

Brustimplantat
Brustimplantat | Bild: SWR

Fast eine Million Menschen im Jahr erhalten in Deutschland ein Implantat – Tendenz steigend. Hüftgelenke machen dabei den Großteil aus, etwa 200.000 werden Menschen im Jahr eingesetzt. Ein Milliardenmarkt für Hersteller ist entstanden – doch unter diesen gibt es viele schwarze Schafe. Wer denkt, er könne einfach zum Arzt gehen, bekäme dort die bestmögliche Prothese und nach der Operation sei erst einmal alles wieder gut, hat sich getäuscht. Viele Hersteller nehmen es mit der Qualität ihrer Produkte nicht so genau – und Ärzte und Krankenhäuser mischen bei diesem bisher kaum bekannten Skandal kräftig mit. Das Nachsehen hat der Patient.

Angst vor jedem Schritt

Röntgenbild der gebrochenen Hüfte
Röntgenbild der gebrochenen Hüfte | Bild: SWR

Schritt für Schritt muss Ralf Siegel sich in seinen Alltag zurückkämpfen. Seit mehr als zwei Jahren vertraut der 39-Jährige seinem Körper nicht mehr – vor allem nicht seiner Hüfte: "Ich kann keine weiteren Strecken zu Fuß zurücklegen," berichtet er. "Ich kann nicht mehr mit meinen Kindern spielen und keinerlei Sportaktivitäten mehr ergreifen, weil ich immer irgendwo das Gefühl habe, da könnte wieder was schief gehen, und davor hab ich entsetzliche Angst."

Wovor Ralf Siegel solche Angst hat, geschah am 27. Mai 2008. Ralf Siegel trug damals schon seit vier Jahren ein künstliches Hüftgelenk. Eine angeborene Durchblutungsstörung hatte seinen rechten Hüftknochen porös werden lassen, die Diagnose: eine ungewöhnlich frühe Arthrose. Schmerzen gehörten seit der Jugend zu seinem Leben – bis ein Arzt am Helios Krankenhaus Emil Behring in Berlin ihm Linderung versprach. Ein künstliches Hüftgelenk der Lübecker Firma Eska Implants wurde ihm eingesetzt. "Damit begann ein neuer Lebensabschnitt, ich war endlich schmerzfrei – und meinem Arzt unendlich dankbar," erinnert sich Siegel.

Zehn bis fünfzehn Jahre lang sollte die Prothese halten, hieß es. Doch nach ziemlich genau vier Jahren passierte, womit Ralf Siegel niemals gerechnet hatte. Er wollte mit dem Motorrad Erledigungen machen. "Und beim Einschlüpfen in den rechten Schuh machte es auf einmal 'knack'. Ich konnte mich nicht halten und bin dann rücklings über gestürzt und konnte mich nicht mehr bewegen. Und hatte höllische Schmerzen," erzählt Ralf Siegel. Im Krankenhaus erfährt er: Sein künstliches Hüftgelenk ist gebrochen. Er ahnt: Irgendetwas ist da faul, so etwas kommt normalerweise nicht vor – und beginnt im Internet zu recherchieren. Bald findet er einen Anwalt, der auf solche Fälle spezialisiert ist.

Nur die Spitze des Eisbergs

Ein Defibrillator
Ein Defibrillator | Bild: SWR

In der Berliner Kanzlei von Medizinrechtler Jörg Heynemann erfährt Ralf Siegel, dass er nicht der einzige Patient mit einer solchen Geschichte ist. "Es gibt mehrere Hersteller, die entsprechend fehlerhafte Produkte herstellen, und es kommt leider immer wieder zu Brüchen," staunt Heynemann selbst. Als er vor einigen Jahren den ersten Fall übernahm, ahnte er nicht, welche Lawine auf ihn warten würde. "Wir bearbeiten hier in der Kanzlei derzeit circa 200 Bruchereignisse. Das ist aber eigentlich nur die Spitze des Eisberges." Besonders häufig darunter: Produkte der Firmen Eska Implants, Braun Aesculap und Falcon Medical. Hersteller, die seit Jahren enorme Umsätze mit ihren Implantaten machen.

An Jörg Heynemann wenden sich immer mehr Patienten, die den Pfusch in ihrem Körper nicht hinnehmen wollen. Dabei geht es nicht nur um Hüftprothesen. Auch andere Implantate und sogar Herzschrittmacher versagen, mit Folgen, die tödlich sein können. So brach die Knieprothese von Renate G. nach nur einem Jahr. Auch ihr hatte man gesagt, sie würde fünfzehn Jahre halten. Renate G. verletzte sich beim Sturz, belastet ihr Bein seither aus Angst nicht mehr richtig, chronische Rückenschmerzen sind die Folge. Für Tanja C. kam der Schock im Sommerurlaub: Ihr Brustimplantat aus Sojaöl war gerissen, das Öl sickerte in ihren Körper und drohte, ihre Leber zu vergiften. Wegen Kopf- und Herzschmerzen ging sie ins Krankenhaus – und erfuhr dort, dass sie ein Implantat aus einer Serie fehlerhafte Produkte im Körper trug. Für Klaus P. kam indes jede Hilfe zu spät: Sein Defibrillator – ein in die Brust implantiertes Gerät, das vor dem plötzlichen Herztod schützen soll – sendete eines Abends unkontrolliert Stromstöße aus. Ein Draht hatte einen Wackelkontakt, das Herz von Klaus P. hielt den Stromstößen nur eine halbe Minute stand, dann starb er.

Poröse Stellen im Hüftgelenk

Die Bruchstelle
Die Bruchstelle des Hüftimplantats | Bild: SWR

Ralf Siegel will nun klagen, zunächst gegen den Hersteller. Dazu soll ein unabhängiger Gutachter herausfinden, warum seine Hüftprothese gebrochen ist.
In Erlangen geht der Implantat-Experte Ulrich Holzwarth auf Spurensuche, analysiert den gebrochenen Metallschaft des künstlichen Gelenks unter dem Mikroskop. Doch schon mit bloßem Auge ist das erste Indiz zu erkennen: Ein Riss hat sich durch das Metall gezogen, bis es brach. Die Ursache steht für Holzwarth fest: Am oberen Rand trägt das Gelenk eine Laser-Schrift, genau am Punkt mit der höchsten Belastung. Dadurch entstand eine Schwachstelle im Material, die den Ausgangspunkt des Risses bildete. Für Holzwarth ein nahezu fahrlässiger Fehler des Herstellers.

Doch auch Holzwarth weiß, dass Ralf Siegel kein Einzelfall ist: Er schätzt, dass über Tausend Hüftprothesen im Jahr in Deutschland brechen – vor allem, weil sie billig hergestellt wurden. Oftmals werden die aus Titan oder einer Kobalt-Chrom-Molybdän-Legierung bestehenden Gelenke nicht geschmiedet, sondern in Formen gegossen. Dadurch lässt sich schneller eine höhere Stückzahl herstellen. Doch beim Gießen geraten oft Luftblasen oder kleinste Unreinheiten in die Legierung, wodurch im Gelenk poröse Stellen entstehen. Bei bis zu zwei Millionen Belastungen im Jahr – nur durch normales Gehen – brechen viele Hüftgelenke dadurch vor ihrer Zeit.

Lasche Gesetze

Die gebrochene Prothese
Die gebrochene Prothese | Bild: SWR

Doch das Sparen der Hersteller ist nur die eine Seite. Denn auch die Gesetze sind denkbar lasch: Während für die Zulassung von Arzneimitteln – wie Tabletten – zahlreiche Studien und Tests vorliegen müssen, reicht bei Implantaten ein einziges, so genanntes CE-Zertifikat aus. Dieses kann sich der Hersteller bei einer Instanz seiner Wahl ausstellen lassen. Überprüft wird es nicht. Wie gut ein Implantat ist und wie lange es hält, wird von keiner Behörde kontrolliert, moniert auch der Anwalt Jörg Heynemann: "Die Zulassungsvoraussetzungen für Medizinprodukte sind nach wie vor nicht ausreichend, oder man kann es auch verschärft sagen: abenteuerlich. Weil sich die Medizinprodukte-Hersteller so ein CE-Zertifikat irgendwo besorgen können, meinetwegen auch im Ausland. Da ist dringend Reformbedarf."

Ralf Siegel hat zwar inzwischen Schmerzensgeld vom Hersteller bekommen. Doch der Betrag ist nicht sonderlich hoch – und er erfährt noch etwas anderes: Es hatte für seine Prothese längst eine Rückrufaktion gegeben. Schon drei Jahre vor seinem Unfall. Der Hersteller hatte Krankenhäuser und Ärzte darüber informiert, dass die Serie, aus der auch Ralf Siegels Implantat stammte, fehlerhaft war. Selbst Ralf Siegels Arzt wusste Bescheid – doch er war in die Entwicklung der Prothese involviert und hielt es nicht für nötig, seine Patienten über den Fehler aufzuklären. Auch beim zuständigen Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn war die Meldung eingegangen. Doch das Amt ist nicht zuständig, danach Maßnahmen einzuleiten oder Patienten zu informieren. So hat Ralf Siegel nie etwas davon erfahren.

Eine Rückrufaktion – und der Arzt wusste Bescheid

Brief des  Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
Brief des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) | Bild: SWR

Diese Tatsache regt ihn besonders auf: "Ich klage die Klinik und den Arzt an, dass man mir mein Selbstbestimmungsrecht genommen hat und mich nicht darüber aufgeklärt hat, dass ich so ein jederzeit brechbares Implantat in mir trage. Das ist absolut verantwortungslos!" Auch sein Anwalt Jörg Heynemann sieht hier den entscheidenden Fehler: "Es ist natürlich schlimm genug, dass die Prothese von Herrn Siegel gebrochen ist. Aber unterstellt, dass es auch mal solche Fehler geben kann, ist der eigentliche Skandal der Sache, dass Herr Siegel und auch alle anderen betroffenen Patienten nicht darüber informiert wurden, dass sie ein fehlerhaftes Implantat in sich tragen."

Ralf Siegels Anwälte Jörg Heynemann und Anna Zumbansen fordern schon seit Jahren strengere Gesetze. Zudem plädieren sie für ein öffentliches Register, in dem alle Brüche oder Rückrufe verzeichnet sein sollten. In Schweden habe ein solches Register dazu geführt, dass die Rate an gebrochenen Implantaten im Jahr um 30 Prozent zurückging. Skrupellose Hersteller, Krankenhäuser und Ärzte wurden durch das im Internet einsehbare Register öffentlich angeprangert. Der Markt begann, sich selbst zu regulieren. Doch in Deutschland werden Patienten mit dem Pfusch in ihrem Körper bisher allein gelassen.

Autorin: Sarah Zierul (SWR)

Stand: 17.09.2015 14:05 Uhr

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