So., 19.09.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Trinken in der Schule
Ohne Wasser läuft nichts – zumindest nicht an der Holte-Grundschule in Dortmund. Dort gibt es den Wasserdienst: Zwei Kinder ziehen mit Glaskrügen in die Aula und zapfen an einem Trinkwasserspender frisches Wasser. Im Klassenraum hat jedes Kind einen Becher, auf dem sein Name steht, und alle dürfen trinken, wann immer sie Durst haben. Auch mitten in der Stunde - das ist an deutschen Schulen keineswegs die Regel.
Trinkkultur: mangelhaft
Denn Trinken im Unterricht ist bei weitem nicht überall erlaubt, weiß Dr. Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) in Dortmund. Sie beobachtet seit Jahren die Ernährung von deutschen Kindern in einer großen Langzeitstudie, der DONALD-Studie. In den letzten Jahren musste sie feststellen, dass Kinder in Deutschland zu wenig trinken. In Urinproben stellte ihr Team fest, dass der Urin der Kinder konzentrierter war als wünschenswert, es fehlte Flüssigkeit. Gründe dafür gibt es viele, in erster Linie, so die Ernährungsexpertin, liegen sie in der Ess- und Trinkkultur der Familien begründet: So wird Wasser in deutschen Haushalten seltener angeboten als etwa in Italien oder Frankreich, wo das Wassertrinken selbstverständlich zum Essen gehört. Auch gehen nicht wenige deutsche Kinder ohne Frühstück aus dem Haus, so dass sie morgens schon mit einem Flüssigkeitsdefizit in den Tag starten.
Wasser für die Konzentration
Das Problem setzt sich fort: In vielen Schulen dürfen Kinder während des Unterrichts nicht trinken, in den Pausen aber spielen sie oder reden mit Freunden. Das Trinken kommt zu kurz. Dabei ist genügend Flüssigkeit gerade beim Lernen und Konzentrieren wichtig, denn das Gehirn braucht Wasser als Leit- und Nährmedium. Das ist seit langem bekannt; ebenso wie die Tatsache, dass reines Wasser den Durst am besten löscht. Diese Binsenweisheit wird sogar an allen Grundschulen im Unterricht gelehrt. Doch wie die Ergebnisse der DONALD-Studie erweisen, bleibt sie in Deutschland graue Theorie.
Leitungswasser verhindert Übergewicht
Und dabei hat das Wassertrinken noch weitere Vorteile: Das FKE und Dr. Mathilde Kersting haben den Erfolg von Wasserspendern an Schulen nachgewiesen – und gezeigt, dass es in Klassen, in denen aktiv zum Wassertrinken angeleitet wird, weniger übergewichtige Kinder gibt. In der sogenannten TrinkFit-Studie verteilte das FKE im Jahr 2006 an 15 Dortmunder Schulen Wasserflaschen, kostenlos installierte der Bund der deutschen Wasserversorger die 3.000 Euro teuren Wasserspender. Die schlanken Geräte hängen direkt an der Trinkwasserleitung und verursachen nach Aufstellung kaum noch Kosten. Die Kinder zapfen selbst Wasser, was ihnen Spaß macht, auf Wunsch gibt es auch Wasser mit Kohlensäure, was manche Kinder lieber mögen. Geld für die Studie und die Wasserspender gab es damals auch vom Bundesernährungsministerium. 3.000 Kinder aus Grundschulen machten mit, das Ergebnis war eindeutig: Diejenigen, die in der Schule Wasser tranken, hielten ihr Gewicht. Dagegen stieg in den Kontrollgruppen ohne Wasserspender der Anteil übergewichtiger Kinder deutlich an.
Großer Erfolg – keine Wirkung?
Doch aus Sicht der Studienleiterin Mathilde Kersting gab es in Deutschland keine durchgreifenden Konsequenzen: Das Bundesernährungsministerium veröffentlichte zwar eine Pressemeldung zur Studie, doch flächendeckend das Trinken von Leitungswasser an Schulen durchzusetzen oder auch nur zu fördern, wurde nach Meinung von Dr. Kersting versäumt: "Wir hatten eine große internationale Resonanz auf die Studie, die Welt war interessiert, aber in Deutschland passierte gar nichts. Auch das Ernährungsministerium, das die Studie mit finanziert hat, hat praktisch nichts unternommen. Ich bin davon wirklich enttäuscht, denn wir haben hier eine einfache und billige Maßnahme gefunden, dem Übergewicht vorzubeugen."
Das Ernährungsministerium fühlt sich zu Unrecht beschuldigt, immerhin, so teilte die Presseabteilung des Ernährungsministeriums W wie Wissen auf Anfrage mit, habe man die Empfehlung, Trinkwasser anzubieten, in verschiedene Richtlinien eingearbeitet. Unter anderem in "Qualitätsstandards zur Schulverpflegung" im Rahmen der INFORM-Kampagne, einer Gesundheitsinitiative der Bundesregierung. Dort heißt es: "Trinkwasser ist den Schülerinnen und Schülern während des Schulalltags immer kostenfrei zur Verfügung zu stellen, dies gilt auch für die Zeit während des Unterrichts. Die Wasserversorgung kann zum Beispiel durch Trinkwasserspender oder die Installation von Brunnen erfolgen, die regelmäßig gewartet beziehungsweise auf ihren Keimgehalt kontrolliert werden".
Nur unverbindliche Ratschläge
Allerdings sind diese Empfehlungen völlig unverbindlich – ob und in welchem Umfang sich eine Schule an solche Richtlinien hält, ist freiwillig. Das weiß auch das Ministerium, das in der Antwort auf die Anfrage von W wie Wissen auch gleich erklärt, über die Umsetzung der eigenen Empfehlungen keine Auskunft geben zu können. Denn ob die Empfehlungen zur "Bedeutung des Wassertrinkens in den einzelnen Schulen und Kindertagesstätten zu einem verstärkten Angebot von Wasser geführt" hätten, dazu "liegen dem BMELV keine konkreten Zahlen vor, da dies in die Verantwortung der Länder, der Träger der Einrichtungen oder der einzelnen Einrichtungen selbst fällt."
Jeder Schulleiter kann entscheiden
Hintergrund für diese Hilflosigkeit sind die Schulgesetze in Deutschland – was an den Schulen passiert, ist Ländersache, die Bundesministerien haben hier wenig mitzureden. Doch auch in den Ländern weisen die Behörden die Verantwortung von sich. Sowohl das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen, als auch das Staatsministerium für Unterricht und Kultus in Bayern teilten auf Anfrage von W wie Wissen mit, zuständig seien Schulen und Schulträger – letztlich sogar die Eltern. Schließlich, so der Pressesprecher des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, könne man weder Eltern noch "Schülern vorschreiben, was sie zu trinken haben". Letztlich liegt die Entscheidung, ob überhaupt im Unterricht getrunken werden darf, auch beim einzelnen Lehrer. Wassertrinken mit einem Wasserdienst und bunten Bechern in der Klasse zu fördern, ist eine Initiative engagierter Lehrer, und auf den Kosten bleiben Schulen und Eltern sitzen: Rund 3.000 Euro kosten die Trinkwasserspender in der Anschaffung, im Zweifelsfall müssen die Eltern privat zusammenlegen.
Dickes Problem
Doch Übergewicht bei Kindern ist keine private Angelegenheit mehr. Seit Jahren bereitet die Welle der fehl ernährten Jugend Ärzten und Politikern schon Kopfzerbrechen. Denn die Anzahl übergewichtiger Kinder steigt, die Folgen machen sich meist im Erwachsenenalter bemerkbar: Diabetes, Gelenkschäden, Arbeitsunfähigkeit. Gefürchtet sind vor allem die Kosten für die Krankenkassen. Das einfache Wassertrinken während der Schulstunden könnte, so Mathilde Kersting, einfach, billig und wirksam helfen. Übrigens hilft Wassertrinken auch Erwachsenen, die mit den überflüssigen Kilos kämpfen. Leichter würde der Umstieg auf Deutschlandes sicherstes Lebensmittel ihnen noch fallen, hätten sie es von Kindheit an gelernt – zum Beispiel in der Schule.
Bericht: Johanna Bayer (WDR)
Stand: 02.10.2014 13:20 Uhr