SENDETERMIN So., 20.11.11 | 17:03 Uhr | Das Erste

Aus dem Gleichgewicht

Grafische Darstellung eines Bogengangs
Instrumente für unseren Gleichgewichtssinn: die Bogengänge im Innenohr. | Bild: NDR

Das wichtigste Instrument unseres Gleichgewichtssinns besitzen wir gleich zwei Mal - das Gebilde aus drei Schlaufen, den sogenannten Bogengängen, befindet sich in unserem Innenohr. Jeder dieser Gänge ist zuständig für eine der drei räumlichen Dimensionen: für Bewegungen nach vorn oder hinten, für hoch und runter und der dritte für seitliche Bewegungen.

Die Bogengänge sind mit Flüssigkeit gefüllt. Außerdem enthält jeder Gang einen kleinen, fleischigen Hügel, die sogenannte Ampulle. Sie ist bedeckt mit winzigen, in einer Gallerte befindlichen Sinneszellen, manchmal auch als Haarzellen bezeichnet. Abhängig davon, wie wir uns bewegen, strömt die Flüssigkeit in unseren Bogengängen in eine bestimmte Richtung, wobei die Sinneszellen sich mit dem Flüssigkeitsstrom mitbewegen - wie eine Fahne im Wind. Dabei entsteht Elektrizität, die sich dann auf einen Schlag entlädt.

Aus diesen Stromimpulsen - im Schnitt etwa 90 pro Sekunde - errechnet unser Gehirn, wie wir uns gerade bewegt haben und in welcher Position unser Körper sich befindet.

Stromausfall im Kopf

Grafische Darstellung der elektrischen Impulse an den Haarzellen
Manchmal werden die elektrischen Impulse von den Haarzellen nicht korrekt übertragen. | Bild: NDR

Wie alle komplexen Systeme ist der Gleichgewichtssinn anfällig für Störungen. Bei bis zu fünf Prozent der Bevölkerung, schätzen HNO-Experten, funktioniert er nicht zuverlässig. In leichteren Fällen äußert sich das in einem vorübergehenden Schwindelgefühl. In schwereren Fällen hält der Schwindel längerfristig an und führt zu Erbrechen, Schweißausbrüchen und pendelnden Augenbewegungen. Mitunter können sich Betroffene nicht einmal mehr im Sitzen aufrecht halten.

Die Ursachen für den Ausfall sind jedoch in vielen Fällen unbekannt. Lediglich beim sogenannten Lagerungsschwindel weiß man, dass er durch Ablösung winziger Kristalle in den Bogengängen verursacht wird. Bei anderen Erkrankungen - insbesondere solchen, bei denen die Gleichgewichtsorgane auf beiden Seiten betroffen sind - tritt der Gleichgewichtsverlust nicht plötzlich auf, sondern in einem schleichenden Prozess, der sich über Jahre unbemerkt hinziehen kann. Was Forscher in diesen Fällen festgestellt haben: Die elektrische Signalübermittlung von den Bogengängen zum Gehirn ist gestört.

Ein künstliches Gleichgewicht?

Ein Patient versucht auf einer Linie zu gehen
Das Gehen auf einer Linie kann ein Problem sein. | Bild: NDR

An diesem Punkt setzt eine Forschergruppe der Universitäts-Klinik Genf an: Wenn das Problem eine elektromechanische Ursache hat, warum dann nicht auch eine elektromechanische Lösung? Man entschied sich zur Entwicklung eines sogenannten Vestibular-Implantats, einer künstlichen Gleichgewichtseinheit, die die Rezeptorfunktion des defekten Sinnesorgans unterstützen oder gar ganz ersetzen kann.

Während die technische Seite ein überschaubares Problem darstellte, bestand die viel größere Herausforderung darin, einen geeigneten Patienten für die ersten Versuche zu finden. Jean-Philippe Guyot, Direktor der HNO-Abteilung der Uniklinik Genf, erinnert sich: "Das Problem war, dass wir nicht riskieren konnten und wollten, bei den Versuchen das Gehör des Patienten zu beschädigen, das ja in direkter Nachbarschaft liegt."

Was Gleichgewicht und Sehen miteinander zu tun haben

Ein Arzt hilft einem Patienten das Gleichgewicht zu halten
Patienten mit Oszillopsie können beim Gehen kaum Gesichter oder Schriften erkennen. | Bild: NDR

Die Forscher hatten Glück: Ein Patient, der wegen extremer Schwerhörigkeit ein Cochlea-Implantat (also eine Hörprothese) erhalten sollte, wies außerdem auch einen schleichenden, beidseitigen Funktionsverlust der Gleichgewichtsorgane auf. Sein auffälligstes Symptom: In Bewegung, vor allem beim Gehen, hatte er große Probleme, Schriften oder Gesichter zu erkennen. Oszillopsie nennen Mediziner das.

Ursache ist der Ausfall des sogenannten Vestibulo-okularen Reflexes, so etwas wie ein eingebauter Bildstabilisator unseres Gehirns. Er basiert auf einem Zusammenspiel von Gleichgewichtssinn und Augen. Bei vielen Patienten mit Gleichgewichtsstörungen ist dieser Reflex gestört.

Der schwerhörige Patient willigte ein, an den Versuchen mitzuwirken, und erhielt statt eines normalen ein Cochlea-Implantat mit einer verlängerten Elektrode, die direkt mit seinem Gleichgewichtsorgan verbunden war.

Erfolgreiche Tests

Ein Patient hat für einen Test eine dunkle große Versuchsbrille auf
Über Elektroden wird dem Patienten eine Bewegung vorgegaukelt. | Bild: NDR

In der ersten Versuchsphase musste nachgewiesen werden, dass es tatsächlich möglich ist, das Gleichgewichtsempfinden von außen zu steuern. Über die Elektrode wurden dem Patienten von einem Computer erzeugte, künstliche Bewegungsinformationen zugeleitet. Die gaukeln ihm vor, dass sein Kopf sich hin und her drehe, obwohl er in Wahrheit völlig still sitzt. Und tatsächlich, seine Augen machten genau die Bewegungen, die sie gemacht hätten, wenn er tatsächlich den Kopf gedreht hätte.

Die nächste große Herausforderung wird sein, die künstlichen Bewegungssignale durch echte zu ersetzen - die also durch eine normale Bewegung des Patienten entstehen. Ein Bewegungssensor, der am Kopf des Patienten befestigt wird, soll diese Informationen an das Innenohrimplantat weiterleiten. Die Technik ist mittlerweile einsatzbereit, die ersten Versuche sollen Anfang 2012 stattfinden.

Die letzte Hürde

Sollte es funktionieren, hätten die Forscher binnen kurzem den ersten Prototypen ihres Vestibular-Implantats entwickelt. Wie lange es dann noch bis zur Marktreife dauert, hängt allerdings von einer entscheidenden, noch unbeantworteten Frage ab: "Was wir immer noch nicht wissen", sagt Professor Guyot, "ist, ob es genügt, den ausgefallenen Gleichgewichtssinn nur zum Teil zu ersetzen, oder ob wir ihn vollständig übernehmen müssen. Wenn der teilweise Ersatz ausreichend ist, dann sind wir der Lösung sehr nah. Müssen wir den Gleichgewichtssinn aber komplett reproduzieren, kann es noch Jahre dauern."

Autor: Thomas Wagner (NDR)

Stand: 29.07.2015 11:24 Uhr

Sendetermin

So., 20.11.11 | 17:03 Uhr
Das Erste