So., 24.07.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Der Baumdoktor kommt mit der Spritze
Der Waldbestand Hamburgs umfasst etwa eine Million Bäume. Das enge Zusammenleben von Mensch und Baum bedeutet für die Pflanzen Stress: Abgase und Schadstoffe aus Industrie und Verkehr, Flächenversiegelung, Vandalismus und nicht zuletzt der Urin von Hunden und Parkbesuchern setzen den Bäumen zu. Generell müssen Städte daher mehr für ihre Gesunderhaltung tun als ländliche Regionen. Hamburg ist bundesweit führend in Sachen "Baummedizin".
Das Schicksal der Ulmen
Hamburg war einst eine Ulmenstadt. Die Ulme ist der ideale Straßenbaum. Kaum eine andere Art ist so strapazierfähig und robust wie die Ulme. Und mit ihrem dichten Wurzelwerk eignet sie sich auch hervorragend zur Uferbefestigung. Bei der Vielzahl von Gewässern in Hamburg ein unschätzbarer Vorteil. Doch die Ulme ist von der sogenannten holländischen Ulmenkrankheit bedroht. Einem Pilz, der um 1920 aus Asien eingeschleppt wurde. Er hat die Ulme in Europa fast ausgerottet. Der Pilz wird von einem kleinen Splintkäfer übertragen, der zwar nicht weit fliegen kann, aber dicht stehende Bäume flächendeckend infiziert.
Wie ein Baum sich wehrt
Bäume haben grundsätzlich eine sehr wirkungsvolle Abwehrmöglichkeit gegen Schädlinge: Sie reagieren u. A. über ihre Leitungsbahnen, die sich in der Rinde und im äußersten Jahresring befinden. Sie erfüllen viele der Aufgaben, die im menschlichen Organismus die Blutgefäße übernehmen. Sind Teile eines Baumes befallen, verschließt er in diesem Bereich seine Gefäße und lässt den Ast oder Zweig gezielt absterben. Ein jahrtausendealtes Erfolgsmodell. Das Gefährliche an der holländischen Ulmenkrankheit ist: Der Baum verholzt in einer Art Panikreaktion alle Leitungsbahnen auf einmal. Dadurch kann er sich nicht mehr versorgen, vertrocknet und stirbt. Man könnte es als Selbstmord aus Angst vor dem Pilz bezeichnen. Dabei könnte die Ulme mit einem leichten Pilzbefall durchaus überleben. Denn der Ulmenpilz schädigt den Baum nicht wesentlich. Die Umweltbehörde Hamburg versucht nun, in einem deutschlandweit einzigartigen Modellversuch, den Ulmen ihre tödliche Panikreaktion "abzugewöhnen".
Es piekst gleich ein bisschen!
Baumpfleger Stefan Haselbach nähert sich mit einem metallisch blitzenden Gerät in der Hand einer Ulme. Es erinnert an eine futuristische Laserpistole – nur mit Nadel an der Mündung. Im Lauf seiner Impfpistole befindet sich das Glasröhrchen mit einem Serum gegen die holländische Ulmenkrankheit. Haselbach rammt die Nadel durch die Rinde hindurch bis ins Splintholz. Das ist die äußerste Holzschicht, in der die Leitungsbahnen des Baumes verlaufen. Dann spritzt er vorsichtig das Serum in die Ulme. Es enthält Sporen eines harmlosen Schlauchpilzes, der mit dem Erreger der holländischen Ulmenkrankheit verwandt ist. Durch die Infektion gewöhnt sich der Baum an diese Pilzart. Er zeigt dadurch nur noch eine abgeschwächte Abwehrreaktion, wenn er später von der holländischen Ulmenkrankheit befallen wird. Das Ganze ähnelt der Desensibilisierung von Allergikern beim Menschen, wirkt aber nur eine Vegetationsperiode. Mit jedem neuen Jahresring muss erneut gespritzt werden.
Teures Pilotprojekt
Rund 20.000 Euro kostet allein die Impfkampagne. Damit können zehn Prozent des Ulmenbestandes von Hamburg geimpft werden: 350 Bäume. Hinzu kommen noch einmal 20.000 Euro für ein großangelegtes Ulmenrettungsprogramm, bei dem alle Bäume einzeln erfasst und ständig medizinisch betreut werden. Viel Aufwand für eine Baumart, die fast alle Städte und Kommunen in Deutschland als unrettbar abgeschrieben haben. Doch nach nunmehr drei Jahren zeichnen sich erste Erfolge ab. Offenbar lässt sich der Baum mit dem Impfstoff tatsächlich wirksam schützen. Mittlerweile zeigen Behörden aus dem ganzen Bundesgebiet Interesse an dem Hamburger Projekt.
Der gläserne Patient
Vor einer Linde in einem Hamburger Park steht ein Mann und murmelt Zahlen vor sich hin. In einen Tablet-PC trägt er gerade den aktuellen Stammumfang des Baumes ein. Die Linde heißt G72, der Mann Andreas Herrmann - beide kennen sich seit langem. Andreas Herrmann ist Diplom-Forstwirt und zuständig für Park- und Straßenbäume. Auf seinem Computer befindet sich das Hamburger Baumkataster. Eine Software, mit deren Hilfe 245.000 Straßen- und 200.000 Parkbäume erfasst sind. Jeder dieser Bäume hat eine eigene Krankenakte. Der Baumkontrolleur kann jederzeit ein Satellitenbild mit dem eingezeichneten Baumbestand abrufen. Die Luftaufnahme lässt sich so lange vergrößern, bis der Patient identifiziert ist. Einen Mausklick später erscheinen Angaben wie Alter, Größe, Krankengeschichte und bisherige Behandlungen.
Baum-Orthopädie
Der Stamm von G72 hat sich in fünf Metern Höhe geteilt und ist in zwei gleich dicken Stämmlingen weiter gewachsen. Bei Sturm könnte der Baum hier brechen oder gar in Längsrichtung reißen. Deshalb werden beide Stämmlinge miteinander verbunden. Früher nahm man dafür einfache Stahlseile, doch die hatten einen großen Nachteil: Wenn der eine Stämmling heftig vom Wind geschüttelt wird, spannt sich das Stahlseil und reißt ruckartig an dem zweiten Stämmling. Doch die Baumorthopädie hat sich weiter entwickelt: Heute montieren die Baumpfleger flexible Seile aus Kunststoff, die im Inneren zusätzlich einen Ruckdämpfer haben. Das puffert die zerstörerische Energie ab und schont den Baum. Bei alten Patienten, die bereits früher mit Stahlseilen stabilisiert wurden, bleiben die "Baumdoktoren" allerdings bei Stahl. Denn ein Baum gewöhnt sich an solcherlei orthopädische Hilfsmittel. Er merkt, dass ihn etwas stützt oder hält und bildet entsprechend weniger stabilisierendes Holz in diesem Bereich. Würde man nun plötzlich die starren Stahlseile durch flexible Systeme ersetzen, hätte der Baum ein Stabilitätsproblem.
Besser hohl als faul!
Nicht jeder Verfall eines Baumes muss auch behandelt werden: Im Hamburger Jenisch Park steht eine 550 Jahre alte Eiche. Ihr siebeneinhalb Meter umfassender Stamm ist innen hohl. Da sich die lebenswichtigen Leitungsbahnen in der Rinde und in den äußeren Schichten befinden, ist das nicht weiter schlimm. Die Eiche hat schon Generationen von Baumdoktoren er- und überlebt. Hohle Bäume wurden früher mit Beton ausgegossen. Das sollte die Stabilität erhöhen. Doch das gilt heute als Kurpfuscherei: Denn zwischen Beton und Holz sammelt sich leicht Feuchtigkeit. Die Folge: Pilzbefall. Deshalb lässt man solche Bäume heute einfach hohl und offen stehen. Manchmal, das haben auch Baumdoktoren inzwischen gelernt, ist weniger mehr.
Björn Platz (NDR)
Stand: 29.10.2015 14:31 Uhr