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Experiment Borkenkäfer

Entwurzelte Bäume (BR)
Nach dem Sturm: Entwurzelte Bäume – der Nährboden für Borkenkäfer

Es begann mit zwei gewaltigen Stürmen im Jahr 1983. Der Wind fällte 70.000 Kubikmeter Holz im Nationalpark Bayerischer Wald. Doch anstatt den Wald danach „aufzuräumen“, blieben die toten Bäume liegen. Man wollte die Natur sich selbst überlassen. Ein Experiment, eine neue Form von Naturschutz. Aber schon bald war klar: Der Ausgang des Experiments ist vollkommen ungewiss!
Denn weitere Stürme und Windbrüche und noch mehr totes Holz bereiteten den Boden für einen gefürchteten Forstschädling: den Buchdrucker, einen Borkenkäfer. Der Käfer vermehrte sich explosionsartig – und vernichtete innerhalb von zehn Jahren weitere 7.000 Hektar Fichtenbestände. Zuerst dachte man im Nationalpark, dass der Borkenkäfer durch seine natürlichen Feinde oder auch durch die Witterung im Zaum gehalten wird. Aber das war letztlich zu naiv gedacht. Der Borkenkäfer vermehrte sich immer weiter.

Zerstörtes Waldbild

Eine junge Fichte wächst auf Totholz (BR)
Eine junge Fichte wächst auf ihrem toten "Ahnen"

Viele in der Bevölkerung rebellierten. Ihr gewohntes Bild vom Wald verschwand. Darin sahen sie eine ökologische Katastrophe, die es zu stoppen galt. Doch das Experiment lief weiter – und nahm eine erstaunliche Wende.
Denn heute offenbart sich: Von ökologischer Katastrophe oder Zerstörung kann keine Rede sein. Im Gegenteil – auf weiten Flächen entsteht überall neues Leben. In einer Vielfalt, die vorher gar nicht möglich schien.
"Dadurch, dass der Mensch in die Kernzone des Nationalparks nicht mehr eingreift, können hier hoch dynamische natürliche Prozesse ablaufen, wie wir sie gar nicht mehr kennen", sagt der Forstwissenschaftler Dr. Jörg Müller. Und genau diese Prozesse sind es, die jetzt eine ungeheure Artenvielfalt entstehen lassen.

Seit Jahren wird diese Entwicklung im Nationalpark Bayerischer Wald beobachtet und erforscht. Tote Bergfichten erweisen sich dabei offenbar als der beste Nährboden für den eigenen Nachwuchs. Die neue Generation von Fichten gedeiht auf den modernden Stämmen ihrer Ahnen. Dazwischen sprießen auch Laubbäume und Himbeersträucher. Eine dichte Krautschicht bedeckt den Boden. Es ist offensichtlich: Hier entsteht ein gesunder Urwald.

Die Vielfalt hält Einzug

Ein Dreizehenspecht vor Bruthöhle (BR)
Totholzwälder: Ein idealer Ort für den seltenen Dreizehenspecht.

Wind und Borkenkäfer haben die Verhältnisse im Bergwald plötzlich und radikal verändert. Auf einen Schlag kommen Licht und Wärme in den Wald. Offenbar enorm wichtig für viele Arten in dem ansonsten kühlen Mittelgebirgsklima. So entsteht ein Waldgebiet mit ganz unterschiedlichen Lebensräumen: Totholz, Höhlen in morschen Bäumen und Altbäume. Warme und trockene Standorte, doch direkt daneben auch feucht-kühle, dunkle Gebiete. Dementsprechend groß ist auch die Artenvielfalt. So fühlt sich der weltweit seltene Dreizehenspecht im Nationalpark wieder wohl und nistet mittlerweile in vielen Bäumen. Und auch der bedrohte Weißrückenspecht findet in den Buchenwäldern ideale Bedingungen. Sogar der bedrohte Zwergschnäpper singt hier immer öfter. Weitere "Rückkehrer": Habichtskauz, Zaunkönig, Dorngrasmücke, Weidenmeise... Sie alle finden hier ideale Rückzugsgebiete.

"Bevölkerungsexplosion" im Wald

roter Käfer auf einem Blatt (BR)
Im Bayerischen Wald kreucht und fleucht es wieder überall!

Doch die wahre Bevölkerungsexplosion spielt sich im Totholz am Boden ab. Hier fanden Forstwissenschaftler Jörg Müller und seine Kollegen 450 Käferarten, die in diesem Holz leben. Ein Drittel davon steht auf der Roten Liste, ist also gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Arten, die nur noch an ganz wenigen Standorten in Europa vorkommen, finden die Forscher auf einmal in diesem Gebiet im Bayerischen Wald. Ein Beispiel: Ein Schnellkäfer, der 100 Jahre lang verschollen war, taucht jetzt im Nationalpark wieder auf.
Die erstaunlichste Entdeckung der Biologen aber ist, dass vor allem die Arten vom Fichtenkahlfraß profitieren, die von der Fichte abhängig sind. "Im ersten Moment klingt das paradox", sagt Jörg Müller. "Im Klartext aber heißt das: Wir haben es hier mit einem uralten System zu tun, das die Evolution hervorgebracht hat, um immer wieder zu erneuern und die Vielfalt des Fichtenwalds zu erhalten."

"Überlebensinseln" bekommen eine Chance

Ein Baumpilz (Die Zitronengelbe Tramete) BR
Dieser Pilz galt als ausgestorben: die Zitronengelbe Tramete.

Mit dem herumliegenden Totholz können sich endlich wieder natürliche Kreisläufe abspielen, in die der Mensch vorher eingegriffen hatte. Zum Beispiel in die Beziehung zwischen Käfern und Pilzen. Pilze zersetzen das Holz und machen es so für Käfer überhaupt erst besiedelbar. Manche Käfer wiederum bauen regelrecht Pilze an, um sich von ihnen zu ernähren. Ein Geben und Nehmen.
Doch woher kommt diese Vielfalt, die jetzt den Wald neu besiedelt? Denn von außen wandern die Arten nicht ein! Die Antwort ist verblüffend: Die "neuen" Mitbewohner sind ganz alt und stammen aus kleinen Überlebensinseln, aus Resten urwaldähnlicher Strukturen. Aus einem dieser Relikte tauchte sogar eine Weltsensation auf. Die Zitronengelbe Tramete! Der Pilz, der sich parasitisch von anderen Baumpilzen ernährt, galt als ausgestorben, weltweit ist er eine Rarität. Er überlebte vielleicht nur als einzelnes Individuum, als "living dead", in einem versteckten Reservat. Der Borkenkäfer hat ihn herausgelockt. Und nun verteilt er sich rasant über das Totholz im Nationalpark Bayerischer Wald.

Hoffentlich kein Einzelfall

Mann guckt durch Lupe auf Baumstamm (BR)
Von den Erfahrungen im Nationalpark Bayerischer Wald kann man lernen.

Genau solche Erkenntnisse sind es, die den Nationalpark Bayerischer Wald zu einem wichtigen Lernort machen. Denn auch in Wirtschaftswäldern könnten kleine Inseln geschaffen werden, in die der Mensch kaum mehr eingreift und in denen viel Totholz liegt. Das wären dann Überlebensorte für Arten, die zu gegebener Zeit immer wieder in die umliegenden Gebiete einwandern könnten.

Der Borkenkäfer im Nationalpark Bayerischer Wald ist also keine Plage. Er spielt eine Schlüsselrolle für Erneuerung und Artenvielfalt. Er ist der Architekt des Urwaldes, der hier entsteht.
Bisher war das Jahr trocken. Gute Bedingungen für den Buchdrucker. Er wird sein Werk weiter verrichten – und viel neues Leben ermöglichen.

Herbert Hackl (BR)

Stand: 03.11.2015 14:21 Uhr

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