So., 27.02.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Die Leiche Moora – zurück in die Eisenzeit
Am 6. September 2000 entdecken Torfarbeiter im Uchter Moor in Niedersachsen Überreste einer Mädchenleiche. Sie ist in einem schlechten Zustand – zerfetzt von den Klingen der Torfstechmaschine. Die Vermutung von Polizei und Rechtsmedizinern: Es muss sich um die Leiche eines jungen Mädchens aus einem nahegelegenen Dorf handeln. Vor 30 Jahren verschwand es spurlos. Die Mutter der Vermissten wird zu einem Gentest gerufen. Doch der ergibt keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen. Weil aber sonst niemand vermisst wird, kommt der Fall zu den Akten. Nichts geschieht – fünf Jahre lang.
Der Fall Moora
Dann wird im Uchter Moor wieder ein Teil der Leiche entdeckt. Diesmal eine Hand: vollständig mumifiziert. Jetzt werden Archäologen hinzu gerufen, die schnell feststellen: Die Tote starb nicht erst vor 30 Jahren, sondern lange vorher – vor etwa 2.650 Jahren in der vorrömischen Eisenzeit. Das Moor hat sie über die lange Zeit konserviert und inspiriert die Wissenschaftler bei der Namensgebung: Moora wird die älteste in Mitteleuropa gefundene Leiche fortan genannt. Für die Archäologen ist der Fund ein absoluter Glücksfall, denn damals bestatteten die Menschen ihre Toten normalerweise im Feuer. Moora ist eine einzigartige Chance: Von ihr erhoffen sich die Forscher neue Erkenntnisse über die Menschen, die hier in der Eisenzeit lebten.
Spuren eines harten Lebens
Wer war die junge Frau? Warum starb sie im Moor? Diese Rätsel können die Archäologen nicht alleine lösen. Sie bringen Mooras Überreste in die Uniklinik Hamburg. Dort untersuchen der Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel und sein Team die Moorleiche mit modernsten diagnostischen Methoden.
Der Entwicklungsgrad der Wurzeln ihrer Weisheitszähne ergibt: Als Moora starb, muss sie zwischen 17 und 19 Jahre alt gewesen sein. Die junge Frau hatte offenbar ein hartes Leben: Ihre Halswirbelsäule ist so verdickt, dass die Wissenschaftler davon ausgehen, dass sie oft schwere Lasten auf dem Kopf trug. Und sie hungerte regelmäßig, wahrscheinlich sogar jeden Winter. Das erkennen die Rechtsmediziner an Mooras Schienbeinen. Sie zeigen die sogenannten Harris-Linien, dünne Ringe im Knochen. Sie entstehen, wenn das Wachstum durch Unterernährung gebremst oder unterbrochen wird.
An Mooras Schädel finden die Wissenschaftler zwei tiefe Kerben, wie von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand. Die junge Frau wurde also offenbar Opfer von Gewalt. Allerdings schon drei bis sechs Jahre vor ihrem Tod. Die Wunden am Kopf waren gut verheilt. Für Mooras Tod muss es also eine andere Ursache geben. Suchte die junge Frau im Moor vielleicht nach Nahrung und verirrte sich dabei? Oder war sie durch eine Krankheit so geschwächt, dass sie es einfach nicht mehr nach Hause schaffte?
In Knochen lesen
Mooras Überreste gehen wieder auf die Reise. Diesmal nach Göttingen zu Professor Michael Schulz. Er ist Paläopathologe und spürt Hinweise auf Krankheiten in uralten Knochen auf. Bei Moora findet er viele Beschwerden: Darunter einen kleinen Tumor an der Schädelbasis und eine Hirnhauttuberkulose. Wäre sie älter geworden, ist es sehr wahrscheinlich, dass eine dieser Krankheiten sie getötet hätte. Und dazu noch harte Arbeit, Hunger, Gewalt: Das Bild von Mooras Leben nimmt immer deutlichere Züge an. "Sie sitzen viele Tage an dem Skelett, manchmal Wochen", sagt Michael Schulz. "Das bedeutet, dass sie wirklich individuelle Züge dieses Menschen kennen lernen und manchmal auch bedauern, wie schwer der das wohl gehabt haben muss."
Die Spurensuche in der Eisenzeit geht weiter
Doch wie Moora starb, bleibt den Wissenschaftlern weiterhin ein Rätsel. Aber Rechtsmediziner Klaus Püschel gibt noch nicht auf: "Wir wissen nicht, ob sie vielleicht ertrunken ist oder an einer inneren Ursache starb. Oder an einer Gewalteinwirkung, die keine Spuren hinterlässt. Da grübeln wir noch drüber, aber es gibt noch ein paar Chancen." In den nächsten Jahren wollen die Wissenschaftler weitere Untersuchungsmethoden anwenden, um die Todesursache zu bestimmen. Aber schon jetzt ist eines klar: Keine andere Moorleiche der Welt ist so gut dokumentiert und erforscht worden wie Moora, die junge Frau aus der Eisenzeit.
Autorin: Christine Buth (NDR)
Stand: 04.11.2015 12:00 Uhr