So., 08.05.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Doping für dünne Stimmen
In der Popmusik geht es gar nicht mehr ums Singen - das behaupten Musikkritiker. Denn die Stimme würde heute der Computer in den Musikstudios machen. Mit der richtigen Software könne jeder wie ein Popstar klingen. Ob das stimmt, hat unser Moderator Dennis Wilms in einem Musikstudio in Hannover getestet. Er wollte immer schon einmal so singen wie Johnny Cash. Doch so rauchig und tief ist seine Stimme gar nicht..
Manipulation mit Tradition
Zusätzlicher Hall, Volumen oder gar eine Stimmenverdopplung: Seit es Musikstudios gibt, wird an der Stimme der Interpreten manipuliert. Vor allem in der Pop- und Rockmusik wurde der Gesang aufgepeppt. Doch wer sich an frühere Gesangsversuche von Stephanie von Monaco erinnert, muss feststellen, dass die technischen Möglichkeiten Mitte der 80er-Jahre begrenzt waren. Mit der Digitalisierung der Musik hat sich das allerdings schlagartig verändert: Denn Digitalisierung bedeutet totale Manipulierbarkeit. Liegt die Stimme erst in Bits und Bytes vor, hat der Produzent Zugriff auf alle Eigenschaften, die für eine Stimme charakteristisch sind.
Die "Optimierer": autotune und Co
Sie heißen "autotune" oder "melodyn" und sie fehlen in keinem Studio: Programme für den Computer, die den Zugriff auf die digitale Stimme ermöglichen. Sie sind in erster Linie dazu gedacht, Musikaufnahmen zu "optimieren". Der Musikproduzent AirKnee soll die Gesangsstimme von Moderator Dennis Wilms in die von Johnny Cash verwandeln. Dennis singt den Song einmal trocken vor - das Urteil des Produzenten: "Er hat Taktgefühl, er hat Rhythmusgefühl. Aber an der Stimme müssen wir noch richtig was machen."
Mit Hilfe der Software lässt sich jede Stimme über mehrere Oktaven nach oben und unten verschieben - bei gleicher Gesangsgeschwindigkeit. AirKnee verändert die Stimme von Dennis Wilms so über vier Oktaven, innerhalb weniger Sekunden. Auch ein Wackler im Gesang lässt sich durch diese Software leicht "wegbügeln". Das hilft im Ernstfall, die Produktionszeit im Studio zu verkürzen.
Aus falsch wird modern
Falsche Töne stören die Harmonie einer Melodie: Deshalb galt früher: Wer falsch singt, nimmt keine Platte auf. Heute ist Musiksoftware in der Lage, falsch gesungene Töne in die richtige, die harmonische Frequenz zu bringen. Ein Beispiel aus unserem Test: Dennis Wilms versingt sich bei der Plattenaufnahme von "Ring of fire" von Johnny Cash - ganz schön schief... Anstatt ihn zu bitten, das Stück noch einmal richtig zu singen, ermittelt Produzent AirKnee die Tonart des Songs: F-Dur. Dies gibt er in den Computer ein. Daraufhin verändert die Musiksoftware die Frequenzen der Stimme so, dass sie zur Tonart harmonisch sind.
Die Sängerin Cher löste 1998 mit dem Titel "Believe" einen Trend zur Stimmverfremdung aus, der bis heute anhält. In diesem Lied wurde erstmals die Musiksoftware "autotune" absichtlich so eingesetzt, dass die Manipulation deutlich zu hören ist. Was bei Cher noch ein Stilmittel war, ist für viele Künstler in den USA ihr Markenzeichen geworden. Stars wie Akon oder T-Pain sind mit einer verfremdeten Stimme bekannt geworden, und auch Lady Gaga verzichtet nicht darauf, ihre Stimme technisch zu tunen.
Manipulationen - live im Konzert
Produzent AirKnee hat auch Dennis Wilms zu einer "modernen" Stimme verholfen – im Zusammenspiel mit dem Song "Ring of fire" aus dem Jahre 1962. Eine durchaus interessante Hörerfahrung…. Dieser Effekt wird übrigens nicht nur im Studio bei Aufnahmen genutzt, sondern auch auf Konzerten live eingespielt. Bevor der ohnehin schon optimierte Gesang den Lautsprecher verlässt, wird er auch noch von einem Effektgerät komprimiert, verfremdet und in klanglich angenehmen Tonhöhen automatisch um Halbtöne verschoben. Das klingt ein wenig wie Jodeln durch eine Metallgießkanne, ist aber bei den Jugendlichen total angesagt. Ohne diese Hilfen in Echtzeit könnten einige "moderne" Künstler kaum "live" auftreten, denn deren Originalstimme ist dem Publikum gar nicht bekannt.
Johnny Cash ist tot - es lebe Johnny Cash
Die Persönlichkeit eines Popstars bestimmt heute das Interesse des Publikums. Die Stimme rückt durch die technischen Möglichkeiten automatisch in den Hintergrund. Denn vieles, was der Sänger oder die Sängerin nicht kann, lässt sich per Computer kompensieren. Auch die Stimme von Dennis Wilms klingt nach der Bearbeitung durchaus nach Johnny Cash - nach nur vier Stunden technischer "Optimierung" hält er sein Erstlingswerk in der Hand: "Also, ein bisschen desillusionierend ist das ja schon. Was hier drauf ist, hat nicht mehr viel mit meiner eigenen Stimme zu tun. Um heutzutage Popstar zu werden, muss man also nicht mehr unbedingt singen können."
Bei monatelangen Produktionszeiten ist der Reiz, perfekte Stimmen zu kreieren, nachvollziehbar. Der Musikkonsument wird allerdings nie sicher erfahren, wie viel Original in der Stimme ist und wie viel Fälschung. Nicht einmal im Konzert...
Autor: Uwe Leiterer (NDR)
Stand: 20.02.2014 12:05 Uhr