So., 18.12.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Explosiv! Pyrotechnik im Hamburger Tatort
Wie viel Berechnung und Planung steckt hinter einer gelungenen Schießerei oder einer knalligen Explosion im Film? Wie schaffen es Pyrotechniker, dass es um die Hauptdarsteller herum Feuer, Schutt und Asche regnet oder Kugeln hagelt - aber dabei niemand zu Schaden kommt? Wie gelingt es ihnen, Explosionen und Brände täuschend echt aussehen zu lassen, ohne dass der Drehort unabsichtlich in Flammen aufgeht?
Der Tatort Hamburg hat uns eingeladen, diese Fragen einmal direkt hinter den Kulissen zu klären. Drei Tage lang durften wir dort Pyrotechnik-Experten bei der Arbeit zusehen und kamen ins Staunen. Denn während die meisten Tatortfolgen weniger durch Action, als vielmehr durch psychologischen Nervenkitzel von sich reden machen, knallte es beim Hamburger Tatort diesmal ganz gewaltig.
Sechs Druckluftkessel für eine gelungene Explosion
Der erste Drehort des NDR-Tatorts "Weg ins Paradies" sieht so gar nicht nach Hamburg aus. Während es heute fast überall in der Stadt dunstig und regnerisch ist, brennt etwas abseits am Rand der Hansemetropole die nordafrikanische Sonne. Kein Wunder, denn hier kommen die Sonnenstrahlen aus dem Scheinwerfer. Das Tatort-Team setzt einen marokkanischen Hinterhof in Szene: ein Selbstmordattentäter auf der Flucht vor Sicherheitskräften. In der Hinterhoftoilette eines Cafés wird er sich - laut Drehbuch - in die Luft sprengen.
Scharf ist die Handgranate natürlich nicht - trotzdem möchte Tatort-Regisseur Lars Becker, dass die Szene authentisch wirkt. Ein Fall für den Pyrotechniker: Jens Schmiedel kennt sich damit aus. Er und seine Kollegen arbeiten für die "Nefzers", eine der bekanntesten Pyrotechnikfimen Deutschlands, meist für große Kinoproduktionen - sogar für Hollywoodfilme großer Regisseure wie Roland Emmerich oder Quentin Tarrantino. Heute wird es eine Nummer kleiner, soll aber mindestens ebenso gefährlich aussehen. Aus sechs Druckluftkesseln wollen sie alles, was zu einer echten Explosion gehört, mit Pressluft hochjagen.
Schmiedel erklärt die Spezialmischung im Kessel: "Hier kommen nachgemachte Ziegelsteine rein - die sind ganz weich - Balserholz und Kork. Und dann noch Teile der Baubühne, die drinnen in der Toilette verbaut wurden. Dann hat man ein bisschen was, das durch die Gegend fliegt. Und hier haben wir den Druckluftkessel mit Bärlappsporen. Dieser Blütenstaub entwickelt, weil er fein verstäubt wird, eine Flamme. Eigentlich ist das eine Staubexplosion."
Propangas für den perfekten Feuerball
Für den perfekten Feuerball braucht es noch jede Menge Propangas - und das setzt Schmiedel auch gleich in der nächsten Szene ein. Dabei arbeitet er mit einer langarmigen Fackel. Denn nicht nur die Todesangst soll sich im Gesicht des Darstellers spiegeln, sondern auch das erste Aufblitzen der Explosion, die anschließend alles zerreißt.
Kaum ist diese Szene im Kasten, beginnt es zu regnen. Beim Aufbau für die Explosion werden Team und Ausrüstung klatschnass. Dabei soll Jens Schmiedel gleich die Hinterhoftoilette per Knopfdruck in die Luft jagen. Dazu braucht er rund 100 Meter Zündkabel und jede Menge Fingerspitzengefühl. Eine Sache der Erfahrung, wie er weiß: "Fingerspitzengefühl ist, dass man zwischen dem Staub und dem Feuer eine kleine Verzögerung lässt, damit man erst einmal das Feuer sieht und dann erst den Staub." Dabei kann immer etwas schief gehen..."Man steckt nicht drin in der Materie - bei dem feuchten Wetter kommt es leicht irgendwo zu einem Kurzschluss."
Aber alles ist gut isoliert, und so kann er die Effekte schließlich trotz Nässe frei schalten. Es wird ernst: Jetzt liegt alles in seiner Hand und muss beim ersten Versuch klappen. Als Jens Schmiedel die fiktive Handgranate schließlich tatsächlich hochgehen lässt, hält das gesamte Tatort-Team rund 25 Meter Sicherheitsabstand, bis auf seinen Kollegen Wolfgang. Der steht mittendrin und bedient die Nebelmaschine gleich hinter den Druckluftkesseln. Am Ende geht alles gut und sieht täuschend echt aus. Doch das ist erst der Anfang.
Blutbeutel mit Sprengstoffzünder
Ortswechsel: Von Marokko nach Hamburg. Inzwischen hat sich Tatortkommissar Cenk Batu - alias Mehmet Kurtulus - als verdeckter Ermittler unter die Terroristen gemischt. In diesem Hotel soll er einen Kofferbombenanschlag verhindern. Eine Schießerei steht an, und für die ist heute Pyrotechniker Norbert Skodok zuständig. Am Rande der Dreharbeiten markiert er die ersten Einschüsse bei Schauspieler Tristan Seith. "Da, an genau die Stelle setzen wir den Bauchschuss", bespricht Skodok mit der Maskenbildernin und platziert genau dort einen Blutbeutel mit winzigem Spezialzünder. "Da drin ist eine kleine genau definierte Menge Sprengstoff, und den kleb ich jetzt auf den Blutbeutel", erklärt der Pyrotechniker. "Wenn ich den zünde, schlägt der Zünder einerseits den Blutbeutel kaputt und andererseits schlägt der durch den Stoff durch. Der reißt auf, es gibt ein Loch und das Blut spritzt raus."
Gleich drei dieser Ladungen montiert er direkt ins Hemd des Schauspielers.
Der wird kurz darauf von Polizisten mit Maschinengewehren "erschossen". Skodoks Platz ist deshalb zwischen lauter schwer Bewaffneten - hier muss er die Blutpatronen im Rhythmus der Einschüsse sekundengenau zünden.
Am Ende des Tages ist ein weiterer Terrorist tot - Drehschluss für heute. Doch für das Tatort-Team und die Pyrotechniker geht die Jagd auf die Attentäter weiter.
Emotionale Reaktionen trainieren
Und dafür lässt das Tatort-Team zwei Tage später eine Kreuzung sperren. Kommissar Cenk Batu muss einen Linienbus stoppen, den der letzte Attentäter sprengen will. Der Bus soll allerdings nur am Schneidetisch explodieren, deshalb sind die Pyrotechniker der "Nefzers" auch heute wieder am Werk: Bernd Rautenberg und seine Kollegen sollen die Schauspieler diesmal direkt mit Explosionsschutt und Glas beschießen - umringt von jeder Menge Gasflammen. Damit sich keiner verletzt, kommt so genanntes Crashglas in die Kessel. Das ist aus butterweichem Silikon, dazu kommen noch weiche Kunststoffteile und Schutt - für die täuschend echte Simulation, wie Rautenberg erklärt: "Es wird den Bus zerreißen, es gibt einen Feuerball, Glassplitter und Fetzen fliegen durch die Gegend. Und wir können direkt auf den Schauspieler schießen, natürlich immer mit einer kurzen Einweisung, damit er, wenn der Effekt passiert, kurz die Augen schließt oder die Hand zum Schutz vor die Augen nimmt."
Kaum ist das geklärt, schaltet er die Effekte scharf und die Schauspieler müssen in Deckung gehen. Vor allem Hauptdarsteller Mehmet Kurtulus steckt mittendrin. Der Explosionsschutt fliegt ihm gehörig um die Ohren, doch das stört den Schauspieler nicht im Geringsten: "Das macht schon Spaß. Das hat so ein bisschen was von einem Abenteuerspielplatz", erzählt Kurtulus am Rand der Dreharbeiten. " Man weiß, dass man in völliger Sicherheit ist. Und dadurch kann man sich einfach reinfallen lassen und so tun, als würde der Bus explodieren. Und als ich gerade um die Ecke geguckt habe, war er auch nicht mehr da. Ehrlich gesagt: Das lag aber glaub ich daran, dass er schon weggefahren ist", erzählt der Schauspieler mit einem Augenzwinkern.
Am Ende bleibt nur ein wenig künstlicher Schutt. Ohne echtes Risiko haben die Pyrotechniker der "Nefzers" es auch diesmal wieder knallen lassen, aber es ist alles heil geblieben - und darüber sind beim Aufräumen alle erleichtert.
Fachausdrücke
Pyrotechnik
Das Wort leitet sich aus dem griechischen Begriff für Feuer ab und beschreibt Techniken der - meist explosiv ablaufenden - Verbrennung. Pyrotechnische Erzeugnisse finden sich nicht nur im Film, auch Alltagsgegenstände wie Streichhölzer oder die Treibladungen in Airbags zählen dazu, insbesondere aber Produkte der Feuerwerkerei sowie Spezialeffekte (special effects). Gegenstände mit pyrotechnischen Materialien unterliegen in fast jedem Land dem nationalen Sprengstoffrecht oder einem speziellen Pyrotechnikgesetz.
Squib
Squibs sind spezielle Filmeffektzünder - zum Beispiel auf Blutbeuteln - mit deren Hilfe Schusswunden simuliert werden sollen
Air Mortar
Im Kontext von Spezialeffekten für Film- und Fernsehproduktionen beschreibt der Begriff "Air Mortar" die Druckluftkessel, mit denen Specialeffekt-Techniker Explosionsschutt und andere pyrotechnische Materialien ins Filmset "schießen".
Autorin: Scarlet Löhrke (SWR)
Stand: 03.11.2015 14:22 Uhr