So., 11.09.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Hochhausbau nach 9/11
Damit hatte niemand gerechnet - und es hatte auch niemand berechnet
Auch Bauingenieure und Architekten, die am 11. September 2001 Augenzeugen des Anschlags wurden, hatten damit nicht gerechnet. "Für mich war es kaum zu glauben. Wir haben Bauherren und Architekten immer erzählt, dass man das nicht berechnen müsse, denn so etwas passiere einfach nicht", sagt der Hochhausexperte David Scott aus dem Ingenieurbüro Arup in New York. Er war direkter Augenzeuge des Unglücks. Unmittelbar nach dem Einschlag fragten ihn seine Assistenten, ob er glaube, dass das Gebäude einstürzen werde. "Nein!", war die Antwort. "Wenn es den Aufprall übersteht, dann wohl auch das Feuer."
Die Suche nach der Ursache
Doch David Scott wurde wie viele andere Ingenieure eines Besseren belehrt. Nach 56 beziehungsweise 102 Minuten stürzten die Twin-Towers ein. Als internationaler Experte hatte Scott Zugang zu Ground Zero und untersuchte damals die Trümmer. Heute sind sich er und alle anderen Experten einig über die Einsturzursache. Als die Flugzeuge in die Tower rasten, zerschellten sie förmlich. Flugzeuge sind leichter als die Fassade eines Hochhauses. Die Teile fliegen überall umher, doch sie zerstören die tragenden Stahlstützen in der Regel nicht. Einzige Ausnahme: Die Kerne der Triebwerke können, wie sich in der anschließenden Untersuchung herausstellte, einzelne T-Träger durchschlagen. Doch zwei Triebwerke reichen nicht aus, das Gebäude strukturell zu schädigen. Die Masse des Flugzeugs brachte das Gebäude also nicht zum Einsturz. Aber was war es dann?
Das Feuer zerstörte die Gebäude
Im Innern der Hochhäuser befand sich als Kern ein robustes Gerüst aus Stahlträgern. Auch die Fassade bestand aus einem stabilen Stahlgeflecht und hatte tragende Funktion. Beide waren verbunden durch eine sehr leichte Stahldeckenkonstruktion - und das war die Schwachstelle des Gebäudes. Durch den Aufprall wurden deren einfacher Feuerschutz aus Gipsplatten abgesprengt und auch die Sprinkleranlage zerstört. Das Kerosin der Flugzeuge wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Das über 1.000 Grad Celsius heiße Feuer brachte die innere Stahlkonstruktion zum Schmelzen. Die Decken stürzten ein. Irgendwann konnte die Fassade allein die darüber liegende Last des Gebäudes nicht mehr stützen und knickte ein. Die Masse des darüber liegenden Gebäudes kam in Fahrt und entwickelte eine enorme Bewegungsenergie, die leicht das darunter liegende Gebäude zerstörte.
Der neue Hochhausboom - "The Shard" in London
Unmittelbar nach Nine Eleven dachten zunächst viele, die Ära der Hochhäuser sei Geschichte. Doch im Gegenteil. Das neue One World Trade Center ist fast fertig. Überall in der Welt gibt es geradezu einen Hochhausboom. Sind diese vielen neuen Gebäude jetzt sicherer? Das zurzeit höchste Gebäude Europas entsteht in London. Es steht kurz vor der Fertigstellung und wird die Skyline von London mit seinen knapp 310 Metern deutlich überragen. Der Name des vollverglasten Wolkenkratzers: "The Shard", zu Deutsch "Die Scherbe".
Hochhausbau folgt dem europäischen Konzept
In die Konstruktion von "The Shard" flossen viele Erkenntnisse über den Einsturz der Twin Towers ein - damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen kann. "The Shard" besteht nicht, wie im amerikanischen Hochhausbau bisher üblich, allein aus einem Stahlskelett. Seine Sicherheit beruht auf einem sehr widerstandsfähigen Gebäudekern aus Beton. Er ist umgeben von Stahlträgern, die besonders fest mit ihm verbunden sind. Die Kombination von Stahlskelett und Stahlbeton macht das Gebäude robust.
In den USA und Asien hat man sehr hohe Hochhäuser für Bürozwecke traditionell nur aus Stahl gebaut. Grund dafür waren vor allem die Kosten. In Großbritannein und auch in Deutschland ist die Situation anders. Zum einen sind die Hochhäuser nicht so hoch. In Deutschland misst das höchste Hochhaus, der Commerzbank-Tower in Frankfurt am Main, nur 259 Meter. In Europa wird zudem traditionell in Stahlbeton gebaut. Ein Einsturz eines hiesigen Gebäudes nach dem Muster des World Trade Centers vor zehn Jahren ist daher hierzulande kaum denkbar, weil ein Feuer die Konstruktion kaum zum Schmelzen bringen kann.
Entscheidende Verbesserungen bei den Fluchtwegen
Stabilität ist das eine, Fluchtwege das andere. Auch hier gibt es entscheidende Verbesserungen. Beim alten World Trade Center waren die Treppenhäuser extrem eng, um Fläche zu sparen. Und die Fahrstühle durften im Ernstfall nicht benutzt werden. Sogar aus den obersten Stockwerken mussten die Leute also herunter laufen. Aber zur selben Zeit wollten Rettungskräfte nach oben. Als Konsequenz gibt es im neuen Londoner Hochhaus mehr Treppenhäuser. Sie sind breiter und liegen im Betonkern, wo sie vor Feuer geschützt sind. Die Aufzüge bleiben bei Feuer in Betrieb. Sie haben eine eigene Luftversorgung und sollen im Unglücksfall ausdrücklich benutzt werden. So reduziert sich die Evakuierungszeit auf ein Minimum.
Der leitende Bauingenieur des Konstruktionsbüros WSP, das die Berechnungen des neuen One World Trade Centers in New York duchgeführt hat, ist sicher: "Dieses Gebäude ist viel besser ausgestattet als viele in der Vergangenheit, und weitaus besser als es das World Trade Center war." Absolute Sicherheit gegen Terroranschläge, Feuer oder Naturkatastrophen wird es nie geben, aber sicherer ist der Hochhausbau nach der Katastrophe von New York auf jeden Fall geworden. Die Bauingenieure haben ihre Lektionen gelernt.
Autor: André Rehse (SWR)
Stand: 11.05.2012 13:01 Uhr