So., 04.09.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Medizin aus dem Kühlschrank?
"Functional Food" oder auch "Funktionelle Lebensmittel" sind der Renner in den Supermärkten - beispielsweise Joghurts, die angeblich die Verdauung fördern und Getränke, die das Immunsystem stärken sollen. Allein in Deutschland werden im Jahr mehrere Milliarden Euro Umsatz mit "Funktionellen Lebensmitteln" verzeichnet. Und die Entwicklung geht weiter, die Grenzen zwischen Nahrungsmittel und Medikament verschwimmen. Finden wir demnächst unsere Hausapotheke im Kühlschrank wieder? Können wir auf Medikamente verzichten und einfach heilenden Joghurt essen oder den passenden Saft zum Krankheitsbild trinken?
Medizin aus dem Saftregal?
In Sachen "Funktionelle Lebensmittel" war in der Werbung bislang alles erlaubt, was sich gut verkauft. Damit wird wohl bald Schluss sein. Denn es kommen Produkte auf den Markt, deren tatsächliche Wirksamkeit klinische Studien bewiesen haben. In Großbritannien beispielsweise: Dort kann man bereits einen Fruchtsaft kaufen, der sehr viel mehr können soll als nur das Wohlbefinden fördern: Er soll der Todesursache Nummer eins in Deutschland, den Volkskrankheiten Herzinfarkt und Schlaganfall, aktiv vorbeugen. In dem Saft steckt ein Tomatenextrakt, der zwei bis drei Stunden nach Genuss den Blutfluss verbessern kann. Er hält die Oberfläche der Blutplättchen weich und geschmeidig und soll so ihr Verklumpen an Engstellen der Gefäße verhindern - oder zumindest bis zu 27 Prozent verringern. Im Klartext: Der Saft leistet einen echten Beitrag zur Vorbeugung von Blutgerinnseln, die Herzinfarkte oder Schlaganfälle auslösen können.
Ungeahnte Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge
Damit eröffnet dieser Saft tatsächlich eine völlig neue Möglichkeit der Gesundheitsvorsorge. Und diese Wirkung ist kein bloßes Werbeversprechen, sondern wissenschaftlich belegt! Aber kann das gut gehen: Saft statt Pille? Eine schöne Vorstellung ist das ganz sicher. Denn für viele Menschen ist das tägliche Aspirin zur Blutverdünnung das gängige Mittel zur Vorbeugung von Infarkten - und etliche handeln sich damit Magen- und Darmbeschwerden ein. Auch viele Herz-Kreislaufpatienten mussten bislang regelmäßig Blutverdünner gegen das Verklumpen des Blutes schlucken und leiden unter den oft unangenehmen Nebenwirkungen.
Könnte das in Zukunft alles überflüssig sein? Professor Gerhard Rechkemmer ist Leiter des Max Rubner-Instituts für Lebensmittelsicherheit in Karlsruhe. Er glaubt nicht, dass die neuen "Funktionellen Lebensmittel" solche Medikamente bald ersetzen können. Medikamente würden zur akuten Behandlung eines Krankheitssymptoms verschrieben, während die funktionellen Nahrungsmittel dazu gedacht sind, Krankheiten vorzubeugen und das Risiko einer Entstehung einer Krankheit zu reduzieren.
Auch interessant: Der funktionelle Saft für die "Herzgesundheit" mit Tomatenextrakt schmeckt gar nicht nach Tomate, sondern nach Orange/Granatapfel oder Blaubeere/Apfel. Der zugesetzte, gesundheitsfördernde Extrakt ist geschmacksneutral. Nur durch ein neuartiges Verfahren, das sogenannte "Fruitflow", entfaltet er seine gesundheitsfördernde Wirkung. Einfach mehr Tomaten essen hilft deshalb leider nicht. In Deutschland ist der Saft allerdings auch noch nicht erhältlich.
Mit Getreide gegen erhöhten Cholesterinspiegel?
Doch auch in Deutschland kann man solche besonders gesunden Lebensmittel im Supermarkt kaufen. Bestimmte Getreideprodukte werben damit, einen erhöhten Cholesterinspiegel zu senken. Das Zauberwort heißt: Beta-Glucan. Beta-Glucane sind lösliche Ballaststoffe, die aus Gerste und Hafer gewonnen werden. Wer mindestens drei Gramm davon am Tag zu sich nimmt, hält seinen Cholesterinspiegel in Schach. So werben die Hersteller - und das müssen sie künftig auch beweisen. Zu hohes Cholesterin ist ein großes Problem für gut ein Drittel der Bevölkerung, denn je mehr schädliches Cholesterin im Blut zirkuliert, desto größer ist die Gefahr von Arterienverkalkung. Deswegen werden solche cholesterinsenkenden Lebensmittel ganz sicher ihre Abnehmer finden. Aber kann der regelmäßige Verzehr solcher Riegel wirklich gegen diese Gefahr schützen? Die Ergebnisse von Langzeituntersuchungen liegen bislang noch nicht vor.
Das Geheimnis im Apfel
Tatsächlich entdecken Forscher immer häufiger hochwirksame Substanzen in Nahrungsmitteln. Und nicht nur in "neuen", funktionellen Nahrungsmitteln aus dem Labor: Am Max Rubner-Institut wurde auch Erstaunliches in ganz normalen Produkten von Mutter Natur entdeckt. Die Karlsruher Forscher fanden heraus: Der Genuss von naturtrüben Apfelsaft kann - ganz ohne jeden weiteren Zusatzstoff - aktiv vor Genschäden schützen, wie sie etwa freie Radikale verursachen. Wahrscheinlich reicht der Genuss von 0,75 Litern naturtrübem Apfelsaft aus, um einen solchen Schutz zu erzielen. Genauso stecken in vielen natürlichen Lebensmitteln, vor allem in Obst und Gemüse, sehr viele bioaktive Inhaltsstoffe, die für den Menschen sehr nützlich und gesundheitsfördernd sein können, betont Professor Rechkemmer.
Chancen und Gefahren von "Functional Food"
Doch sind bioaktive Stoffe grundsätzlich gesund? Von Medikamenten weiß man ziemlich genau: Was wirkt, hat meist auch Nebenwirkungen. Wie sieht es damit bei funktionellen Lebensmitteln aus? Der Präsident des Karlsruher Max Rubner-Instituts sieht zwar keine akute Gefahr, aber ein gewisses Risiko, dass ein mögliches "Zuviel" dieser Lebensmittel durchaus nachteilige gesundheitliche Wirkungen haben kann. Denn die neuen "Funktionellen Lebensmittel" werden sich in einem Punkt von den bisherigen unterscheiden: In Zukunft muss in klinischen Studien der Beweis der Wirksamkeit erbracht werden - so die Vorgabe der EFSA, der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit. Wechsel- oder Langzeitnebenwirkungen werden allerdings nicht untersucht. Eine Art Beipackzettel für das neue "Functional Food" wird es nicht geben. Und ein Arzt oder Apotheker, der sofort Auskunft geben könnte, ist auch nicht immer in der Nähe. Also alles wie gehabt: Der Verbraucher trägt die Verantwortung für sein Essverhalten selbst. Aber dass das nicht besonders gut klappt, sehen wir selbst: Über die Hälfte der Deutschen ist zu dick, ein Drittel davon sogar krankhaft fettleibig. Da kann man fast davon ausgehen, dass die schönen neuen Lebensmittel missbräuchlich verwendet werden - ganz nach dem Motto: "Ich bin zwar zu dick und ernähre mich schlecht, trinke aber den Saft gegen Herzinfarkt und esse Körnerriegel gegen meinen hohen Cholesterinspiegel..."
Autorin: Sabine Guth (HR)
Stand: 13.11.2015 13:54 Uhr