So., 06.03.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Viren - auf frischer Tat ertappt
"Viren sind Terroristen!", das sagt Lennart Nilsson. Egal, welchen Vorgang im menschlichen Körper er gerade im Blick hat: Wenn der 88-jährige Medizinfotograf auf den Auslöser seiner Kamera drückt, macht er nicht nur eine Momentaufnahme. Was bei uns im Körper passiert, wird durch seine Fotos lebendig. "Ich habe immer versucht, Geschichten zu erzählen – in Bildern. Zum Beispiel über die Eizelle", sagt der Lennart Nilsson. "Sie nistet sich ein, liegt ganz ruhig da, und dann fängt sie plötzlich an, sich zu bewegen... quasi der erste Tanz des Lebens." Ob Eizellen oder am Daumen nuckelnde Embryos – die Bilder von Lennart Nilsson gingen in Fotobänden und Filmen um die Welt. Mit aufwendigen Spezialoptiken gelingen ihm Aufnahmen vom Inneren des Körpers, die den Betrachter einfach nur staunen lassen.
Bedeutung von Bildern für Animationen
Die feinen Haarzellen im Innenohr – auch sie hat Lennart Nilsson abgelichtet. Die länglichen Zellen stehen nebeneinander wie Orgelpfeifen. Doch welche Funktion haben sie? Deutlich wird das durch bewegte Bilder – eine Animation. Sobald sich die Zellen alle gemeinsam dem Druck des Schalls beugen, sich vor- und zurückbewegen, wird klar: Geräusche kommen beim Menschen an, indem diese Zellen im Innenohr mit dem ankommenden Schall mitschwingen. Die Aufnahmen von Lennart Nilsson sind oft Grundlage für solche Animationen, die uns dann den Aha-Effekt bringen.
In seinem vermutlich letzten Projekt möchte der 88-jährige Viren ins rechte Licht setzen: Ihren Überfall auf den menschlichen Körper in Bildern festzuhalten, ist eine Herausforderung. Denn die Viren sind gerade mal 200 Nanometer groß – das entspricht einem 5.000stel Millimeter.
Der Angriff der Viren
Um Viren zu fotografieren, muss sich Lennart Nilsson seine "Fotomodelle" erst einmal besorgen. Wissenschaftler vom Karolinska-Institut in Stockholm haben im Labor Herpes-Viren vermehrt. Zusammen mit menschlichen Zellen lagen sie mehrere Stunden in einer Nährlösung. Dabei dringen die Viren in die Zellen ein und machen dort viele Kopien von sich.
Diese Probe schiebt Lennart Nilsson nun unter das Mikroskop. Was er und die Virologin Mia Brytting sehen, beeindruckt die beiden: Die Opfer – also die Zellen – sind total durchlöchert. Ihre Oberfläche ist normalerweise eben – und jetzt voller Krater. Gerissen haben sie die Viren beim Ausbruch aus der Zelle. Zurück bleibt eine kaputte Hülle, die Zelle hat den Angriff nicht überlebt. Ein Krimi, der sich bei einer Virus-Infektion im menschlichen Körper abspielt. "Viren sind Terroristen!", sagt Lennart Nilsson. "Sie dringen in die Zelle ein und beherrschen sie. Sie zwingen sie, Hunderttausende, Millionen Kopien von sich herzustellen – und die Zelle muss gehorchen."
Genau so hatte sich die Wissenschaftlerin Mia Brytting diesen Vorgang auch vorgestellt. Doch die Aufnahmen von Lennart Nilsson ermöglichen der Wissenschaftlerin, wirklich zu sehen, was sie zuvor noch nie zu Gesicht bekommen hat.
Besonders gut erkennbar wird der Ausbruch der Viren aus den Zellen, nachdem Lennart Nilsson die Bilder bearbeitet hat. Ursprünglich sind die Aufnahmen nämlich schwarz-weiß. Doch der Medizinfotograf färbt die ausbrechenden Viren blau ein und setzt den Kraterrand heller von der restlichen Oberfläche ab. Jetzt ist auch für den Laien sichtbar, was für ein Schlachtfeld die Viren hinterlassen haben.
Auf frischer Tat ertappt
Als Lennart Nilsson und Mia Brytting schon denken, sie hätten das Wichtigste gesehen, finden sie auf den Bildern etwas, das auch die Virologin nicht erwartet hätte. Sie sind eigentlich gerade mitten im Gespräch, als Mia Bryttings Blick auf den Bildschirm mit den neuen Aufnahmen fällt. Sie bricht plötzlich mitten im Satz ab und ruft aufgeregt: "Schau, schau, schau! Das ist ja einfach unglaublich: Hier kommt der Herpes-Virus direkt aus dem Zellkern heraus, wie eine Knospe wächst er heraus!"
Theoretisch wissen es die Forscher schon lange. Herpes-Viren werden im Zellkern der befallenen Zelle zusammengebaut. Sind sie fertig, schnüren sie sich vom Zellkern ab. Lennart Nilsson hat sie genau in diesem Moment ertappt. Dass sie so etwas jetzt mit eigenen Augen sehen kann: Davon ist die Wissenschaftlerin begeistert. Und auch Lennart Nilsson ist mehr als zufrieden. Seine harte Arbeit wurde belohnt. "Ich bin stolz und glücklich. Jahre hab ich auf diese Bilder gewartet – jetzt haben wir sie!"
Literatur
Ein Kind entsteht – Der Bildband
Lennart Nilsson, Lars Hamberger
GOLDMANN, 2009
ISBN: 3-442-39184-9
220 Seiten, 22 Euro
Autoren: Mikael Agaton, Sarah Weiss (SWR)
Stand: 13.11.2015 14:16 Uhr