So., 15.04.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Costa Concordia - Havarie trotz Hightech
Kreuzfahrt: Schwimmende Kleinstädte
100 Jahre nach dem Untergang der Titanic erlebt die Passagier-Schifffahrt einen beispiellosen Boom. Längst hat die Seereise ihre Exklusivität verloren. Kreuzfahrten sind billig, wie nie zuvor. Moderne Ozeanriesen nehmen mehr als 7.000 Menschen an Bord. Die schwimmenden Kleinstädte gelten als absolut sicher. Niemand rechnet mit einer Katastrophe, wie dem Untergang der Titanic. Doch dann rammt am 13. Januar gegen 21.45 Uhr die Costa Concordia einen Felsen vor der italienischen Insel Giglio. Das Schiff, mit 4.200 Menschen besetzt, schlägt Leck und kentert. 32 Menschen sterben.
Traumschiff auf Geisterfahrt
Ein Stück des Felsens steckt im Rumpf des Schiffes. Am Meeresboden finden Taucher Stahlteile die aus der Bordwand gerissen wurden. Sie sind aufgerollt wie das Blech einer Sardinendose. Wie konnte ein modernes Kreuzfahrtschiff einen Felsen übersehen, der sogar auf touristischen Karten verzeichnet ist? Auf dem weltweit einzigartigen Schiffsimulator im maritimen Simulationszentrum Warnemünde kann Professor Sven Dreeßen die letzte Fahrt der Costa Concordia nachstellen. "Wenn man sehr dicht an Giglio rankommt, an diese Inselgruppe, die Le Scole, ist legt man von minus 100 Meter auf minus fünf Meter nur in etwa eine Schiffslänge zurück. Das heißt, das Schiff hat nicht mehr die Möglichkeit innerhalb der zurückgelegten Strecke aufzustoppen oder auszuweichen. Diese Planung der Route muss vorher erfolgen, was hier offensichtlich nicht der Fall war." Wird die geplante Route kurzfristig geändert, müsste die Abweichung auf den Seekarten kontrolliert werden, um Hindernisse und Untiefen zu erkennen. Offensichtlich hat die Mannschaft der Costa Concordia genau das versäumt. "Diese ganzen Strukturen, diese Felsgebiete, die unterhalb der Wasseroberfläche sind, sind hier natürlich nicht sichtbar. Man kann sie auf dem Radar nicht darstellen oder mit dem Echolot erfassen." Das Echolot zeigt nur wie tief das Wasser unter dem Schiff an der aktuellen Position ist. Es blickt nicht voraus. Das Radar zeigt nur Hindernisse über Wasser. Wahrscheinlich wurde der Autopilot der Costa Concordia ausgeschaltet. Das Schiff war im Blindflug unterwegs.
Alle Schotten dicht
Ein Video, das im italienischen Fernsehen aufgetaucht ist, zeigt angeblich die Brücke der Costa Concordia kurz nach der Kollision. Die Maschinen sind ausgefallen. Die Mannschaft diskutiert, ob zwei oder mehr Abteilungen des so genannten "Unterwasserschiffes" geflutet sind. Kapitän Sven Dreeßen analysiert das Video: "Das erste Problem ist, dass die Sensorik unzureichend ist. Das heißt von der Brücke aus kann der Kapitän nicht sofort sehen, in welchen Abteilungen ist Wasser und in welchen nicht."
Besonders wichtig ist diese Passage: "Alle wasserdichten Türen geschlossen, sofort!", ruft eine Stimme. Was hat das zu bedeuten? Ist es ein Befehl oder eine Meldung und wann genau kommt diese Meldung? Im Video ist das deutlich nach der Havarie. Doch was sind die Folgen, wenn wasserdichte Türen nicht verschlossen sind? Die Rechtslage ist eindeutig, sagt Sven Dreeßen: "Offensichtlich waren eine oder mehrere wasserdichte Türen nicht geschlossen. Die rechtliche Forderung sagt eindeutig: Auf See müssen die wasserdichten Türen in diesen Abteilungen geschlossen sein." Bisher ist das jedoch nur eine unbestätigte Vermutung.
Die Untersuchungen dauern an, auch deswegen ist es derzeit schwer an Konstruktionspläne der Costa Concordia zu gelangen. Sowohl die Reederei, als auch die Behörden halten die Pläne unter Verschluss. Eine schematische Darstellung kann das Prinzip verdeutlichen. Auch jüngere Kreuzfahrschiffe haben, wie die Titanic, wasserdichte Abteilungen, die das Sinken des Schiffes verhindern sollen. Die wichtigste Lehre aus dem Untergang war die Einführung eines wasserdichten Schottendecks. Damit werden die Schotten nach oben wasserdicht abgeschlossen, um ein Überschwappen des Wassers in andere Schotten zu verhindern.
Wasserdichte Türen müssen geschlossen sein
Doch die Costa Concordia ist trotz der Sicherheitstechnik gekentert. Das ist auch für den Schiffskonstrukteur Stefan Krüger von der TU Hamburg Harburg ein Rätsel. Wie hat sich das Schiff nach der Kollision verhalten? Für diese Frage sind die Aussagen der Überlebenden wichtig. Stefan Krüger hat die Aussagen im Internet ausgewertet. Die Zeugen bestätigen: Das Schiff habe sich nach der Kollision nach backbord geneigt und kurze Zeit danach wieder aufgerichtet. Das ist auch logisch, über das Leck an der Backbordseite dringt Wasser, also neigt sich das Schiff nach backbord. Das Wasser breitet sich in den betroffenen Abteilungen gleichmäßig aus, also richtet sich das Schiff wieder auf. Doch was dann geschah, verwundert den Experten: "Aus irgendwelchen Gründen, die wir eben alle nicht verstehen, ist das Schiff nach Steuerbord über gefallen und das gibt einem so ein bisschen Rätsel auf. Diese kleinen Dreiecke, so genannte wasserdichte Schottschiebetüren, die man in diese Schotte immer einbaut - bis jetzt ist mir noch kein einziger Unfall bekannt, wo ein Schiff versunken ist nach einer Leckage, wo nicht unter Deck ganz massiv diese Schottschiebetüren auf gewesen wären."
Sind Türen zwischen den Schotten geöffnet, werden bei einem Leck sehr schnell viele Abteilungen des Schiffes geflutet. Die Türen unter Deck werden im Alltag auf See geöffnet, um Arbeitern den Durchgang zu erleichtern. Die laufenden Untersuchungen werden vor allem in dieser Frage Klarheit bringen müssen, zumal sich die nächste Frage direkt anschließt. Wer trägt die Verantwortung, wenn die Türen auf See nicht geschlossen sind? Die Reederei oder die Besatzung?
Risikofaktor Mensch
Für Stefan Krüger ist die Konsequenz aus der Havarie der Costa Concordia keinesfalls eine Verschärfung der Sicherheitsvorschriften. "Die allgemeine Erfahrung mit solchen Unfällen ist eigentlich immer, dass man feststellt: An Bord wurden bestimmte Regeln nicht eingehalten - und von daher scheint es mir so zu sein, dass man den größten Sicherheitsgewinn für die fahrende Flotte daraus erzielt, dass man überhaupt grundsätzlich dafür sorgt, dass bestehende Regeln eingehalten werden."
Autopiloten lassen sich ausschalten, Schottschiebetüren können offen gefahren werden. Die Technik funktioniert nur so gut, wie der Mensch, der sie bedient. Laut einer Studie gilt der Faktor Mensch bei 75 Prozent aller Schiffsunglücke als größter Risikofaktor. Welche Kette von Fehlern zum Kentern der Costa Concordia geführt haben müssen die laufenden Untersuchungen zeigen. Längst liegen nicht alle Fakten auf dem Tisch. Das ist der größte Unterschied zur Titanic. Die Ursachen dieser Katastrophe sind mittlerweile größtenteils erforscht.
Autor: Ulrich Hagmann (BR)
Stand: 29.07.2015 14:11 Uhr