SENDETERMIN So., 05.02.12 | 17:00 Uhr | Das Erste

Erdställe - geheimnisvolle Labyrinthe

Vorkommen in Bayern

Ein Mann kriecht durch einen Tunnel eines Erdstalls
Geheimnisvolle Gangsysteme aus dem Mittelalter | Bild: BR

Sie befinden sich unterhalb von alten Kirchen und Siedlungsplätzen: geheimnisvolle Gänge aus dem Mittelalter. In etwa sechs Metern Tiefe winden sie sich durchs Erdreich, verzweigen sich oder enden abrupt wie in einem bizarren unterirdischen Labyrinth. Allein in Bayern gibt es über 600 solcher Anlagen. Doch was war die Bedeutung dieser so genannten Erdställe?

Die Flucht- und Versteck-Theorie

Bäuerin versteckt sich im Erdstall - nachgestellte Szene
Dienten die Erdställe als Versteck? | Bild: BR

Die akademische Geschichtsforschung deutet sie einfach als Fluchtwege und Verstecke. Die zentrale Königsmacht sei gegen Ende des 12. Jahrhunderts zerfallen. Daher habe es viele Überfälle und Brandschatzungen von rivalisierenden Adelsfamilien gegeben, die auf diese Weise ihre Gegner schwächen wollten. Zunächst eine plausible Theorie. Aber nur auf den ersten Blick.

Grafische Darstellung eines Schlupfes
Die "Schlupfe" der Erdställe sind sehr eng. | Bild: BR

Denn seit den 1970er-Jahren erkunden ehrenamtliche Mitarbeiter des Arbeitskreises für Erdstallforschung intensiv die Gangsysteme und sie haben etliche Beweise gefunden, die die Flucht- und Verstecktheorie widerlegen. So gibt es immer nur einen Ein- und Ausgang. Zudem haben Brandversuche gezeigt, dass ein Feuer den Gängen sofort den Sauerstoff entzogen hätte. Die Erdställe wären somit zu einer tödlichen Falle geworden. Auch die vielen Engstellen, die so genannten Schlupfe, passen nicht zu dieser Theorie. Denn Schwangere und ältere Menschen wären darin stecken geblieben.

Eines der großen Rätsel des Mittelalters

Pilger bückt sich, um in einen Raum treten zu können
Dienten die Schlupfe einem "Abstreifritual"? Noch heute gibt es verwandte Bräuche in der Kirche. | Bild: BR

Aber sind die Schlupfe vielleicht ein Indiz für eine kultische Funktion der Erdställe, wie manche Mitarbeiter des Arbeitskreises glauben? Dienten sie einer Art Abstreifritual, bei dem die Sünden an die Mutter Erde abgestreift werden? Ganz abwegig ist diese Theorie nicht. Schließlich gibt es solche Rituale in abgewandelter Form in der katholischen Kirche bis heute, etwa in der Wallfahrtskirche Birkenstein im oberbayerischen Fischbachau. Bislang ist vieles nur Spekulation. Deshalb suchen die Mitarbeiter des Arbeitskreises unermüdlich weiter nach neuen Erdställen, immer in der Hoffnung endlich einen eindeutigen Hinweis zu finden, der Licht in dieses große Geheimnis des Mittelalters bringt.

Literatur

Geheimnisvolle Unterwelt: Das Rätsel der Erdställe in Bayern

Dieter Ahlborn
Kultisurium Verlag, Aying 2010
103 Seiten, 17,50 Euro

Was bedeutet "Erdstall"?

Der Begriff leitet sich NICHT von "Stall" ab, sondern von "Stelle" und hat daher nichts mit einem Viehunterstand zu tun.

Autorin: Sabine Frühbuss (BR)

Stand: 03.11.2015 14:07 Uhr

Sendetermin

So., 05.02.12 | 17:00 Uhr
Das Erste

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