So., 05.02.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Archiv im Stollen
Der Barbarastollen – deutsches Kulturgut im Bergwerk
Der Barbarastollen ist vermutlich der sicherste Ort der ganzen Republik. In dem ehemaligen Silberbergwerk in Oberried nahe Freiburg lagert unser kulturelles Gedächtnis: Es ist sozusagen das 'Endlager' deutscher Geschichte.
Was ist so wichtig, dass die Vereinten Nationen den Stollen unter ihren besonderen Schutz stellen? Das dreifach angeordnete, blauweiße Kulturgut-Schutzzeichen am Eingang signalisiert: Hier lagert Kulturgut, das unter die höchste Sicherheitsstufe der UNESCO fällt. Es ist das einzige Objekt in Deutschland, das diesen Sonderstatus genießt.
Ein bis zwei Mal im Jahr rollen Lkw über den holprigen Waldweg bis vor den Eingang und laden rund 30 Edelstahl-Fässer ab. Lange sei diese Aktion streng geheim gewesen, erzählt Lothar Porwich, Mitarbeiter beim zuständigen Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Die gut gesicherte Eingangstür wird geöffnet und die erste Palette mit der geheimnisvollen Fracht rollt in den Stollen, begleitet von einem Sicherheitsdienst und Mitarbeitern des Bundesamtes. Überall sind Bewegungsmelder und Überwachungskameras. Auch die recht kühlen 10 Grad Celsius Temperatur und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit sind gewöhnungsbedürftig. Ideale Lagerbedingungen für die Edelstahl-Behälter.
Edelstahl-Fässer hinter Stahltüre
Der Tross bewegt sich 400 Meter tief ins Berginnere bis zu einer massiven Stahltüre. Nur eine Handvoll Menschen kennen den 13-stelligen Code, um den Zugang zum Allerheiligsten zu öffnen. Dahinter blickt man in einen langen Lagerstollen: Alles voll von Edelstahl-Behältern. 1.500 sind es mittlerweile, fein säuberlich in Regalen aufgereiht. Aber was ist da eigentlich drin? Lothar Porwich holt einen Musterbehälter hervor, öffnet ihn und zieht mehrere große Filmspulen heraus. "Insgesamt lagern hier rund 30.000 Kilometer Schwarzweißfilm", erklärt der Fachmann vom Bundesamt. Ein genauerer Blick auf einen Filmstreifen zeigt: Es handelt sich um abfotografierte Schriftstücke. "Alles abgelichtete Dokumente aus Archiven der ganzen Republik", erläutert Lothar Porwich, "wichtige Zeugnisse der deutschen Geschichte." Es leuchtet ein, dass die schon aus Platzgründen nicht im Original gesichert werden können, sondern nur als Kopie.
Auswahl im Staatsarchiv Ludwigsburg
Wer entscheidet, welche Dokumente als Kopie im Stollen landen und woher sie kommen? Im Staatsarchiv Ludwigsburg erklärt Archivdirektor Peter Müller, wie das läuft. Wie viele seiner Amtskollegen in den Bundesländern wählt er die Schriftstücke aus, die gesichert werden sollen. Auf mehreren Etagen lagern Unmengen Dokumente deutscher Geschichte. Der Chef zieht ein paar besonders wertvolle Stücke aus dem Regal - unter anderem eine Papsturkunde aus dem Mittelhalter und einen Brief von Martin Luther. Kein Zweifel, hier lagern echte Schätze, aber auch kilometerweise Gerichts- und Verwaltungsakten. "Gesichert werden zuerst die Objekte, die akut vom Verfall bedroht sind, dann Dokumente, die für die überregionale Geschichte Deutschlands von Bedeutung sind zum Beispiel aus der Zeit des Dritten Reiches, wo schon durch den Krieg viel verloren gegangen ist", erläutert der Archivar.
Die Sicherungsverfilmung
Gleich nebenan, am Institut zur Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut, werden die ausgewählten Stücke abgelichtet. An mehreren so genannten Reprokameras drücken die Mitarbeiter jedes Jahr millionenfach auf den Auslöser: Deutsche Geschichte, abfotografiert im Akkord. Sicherungsverfilmung nennen sie das hier.
Aktuell sind Militärakten aus dem Ersten Weltkrieg dran. Am Ende kommt ein Schwarzweiß-Mikrofilm dabei heraus - mit Kopien der Originale. Diese Methode erscheint im digitalen Zeitalter zwar etwas antiquiert, macht aber durchaus Sinn, wie Institutsleiter Frieder Kuhn erklärt: "Im Gegensatz zu digitalen Speichermedien ist der Film nahezu unbegrenzt haltbar. Und zum Lesen benötigt man kein technisches Gerät, sondern nur Licht und eine Lupe". Bestehen die belichteten Filme den Qualitätscheck am Lesegerät, werden sie zu großen Filmspulen gewickelt und von einer Spezialfirma in München in den Edelstahl-Behältern luftdicht verschlossen.
Krieg und Zerstörung vorbeugen
Entstanden ist die Idee der Sicherungsverfilmung unter dem Eindruck der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Man wollte für die Zukunft verhindern, dass wichtige Dokumente der deutschen Geschichte vernichtet werden und damit für immer verloren sind. Der nachfolgende Kalte Krieg mit seiner atomaren Bedrohung verstärkte die Anstrengungen der Vereinten Nationen, wichtige Kulturgüter international zu schützen. Die Konferenz über ein Kulturschutzabkommen fand 1954 in Den Haag statt. Am 14. Mai 1954 wurde die "Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten" von den meisten der 56 Teilnehmerstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, unterzeichnet. Daraus resultiert der besondere Schutz, unter dem der Barbarastollen heute steht.
20 bis 30 Millionen Aufnahmen werden in den Sicherungsverfilmungsstellen des Bundes und der Länder pro Jahr hergestellt und im Stollen eingelagert. Darunter die Baupläne des Kölner Doms, der Einigungsvertrag, Schriften von Hermann Hesse und vieles mehr. Doch nicht nur Kriege seien eine Bedrohung für unsere Kulturgüter, betont Frieder Kuhn. Als Beispiele nennt er den Einsturz des Kölner Stadtarchivs und den Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek. Beide Häuser beklagen den Verlust wertvoller Originale, aber ein großer Teil lagert immerhin noch als Kopie in den Stahlfässern.
Kulturgut für die Ewigkeit
Rund eine Milliarde Aufnahmen mit abfotografierten Dokumenten haben sich im Barbarastollen bis heute angesammelt - atombombensicher, tief im Berg verstaut. Man fragt sich, wer irgendwann mal etwas damit anfangen soll. Lothar Porwich hat sofort eine Erklärung parat. "Das ist natürlich eine berechtigte Frage", gibt er zu, "aber denken Sie mal an diese alten Wandmalereien, die wir heute auch noch finden." Und so stellt sich der Mann vom Bundesamt vor, dass irgendwann, in ein paar Hundert Jahren, unsere Nachfahren auf diese Fässer stoßen werden und den Inhalt entziffern: "Man interessiert sich immer für die Vorfahren. Aus welchem Leben komme ich, wie bin ich entstanden? Diese Neugier, die der Mensch ja hat, wird immer bleiben."
Es wird enormer technischer und finanzieller Aufwand betrieben, um Deutschlands kulturelles Gedächtnis zu bewahren. Ob das Ganze aber tatsächlich einmal von Nutzen sein wird, so wie es sich die Verantwortlichen vorstellen, weiß heute natürlich niemand. Doch wer auch immer in ein paar Hundert Jahren die schwere Stahltür zum Lagerstollen öffnen wird, so der Plan, soll sich ein Bild vom ehemaligen Deutschland machen können.
Autor: Harald Brenner (SWR)
Stand: 29.07.2015 11:04 Uhr