So., 18.03.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Klimawandel als Taktgeber
Komplexes System
Der Frühling kehrt jedes Jahr wieder, das ist eine Gesetzmäßigkeit, die keiner hinterfragt. Er lässt die Lebewesen selbst nach dem härtesten Winter wieder erwachen und wie durch ein Wunder kommt das Leben selbst in tot geglaubtes Holz zurück. Das alljährliche Schauspiel des wiederkehrenden Lebens erscheint uns unumstößlich, doch der idyllische Schein trügt. Denn was den Frühling so faszinierend erscheinen lässt, macht ihn auch so verletzlich: Die Prozesse sind so fein aufeinander abgestimmt, dass die geringste Veränderung eines Rädchens im Gefüge das komplette System ins Wanken bringt. Und dieses eine Rädchen ist die Temperatur. Aufgrund des Klimawandels steigt sie an und die Winterpause endet für einige immer früher. Aber nur für einige!
Warum der Frühling nicht für alle gleichzeitig beginnt
Nach dem Winter kommen nicht alle Lebewesen früher aus der Winterpause zurück. Es ist vor allen Dingen die Vegetation, also die Pflanzenwelt, die sich nach der Temperatur richtet und durch die Klimaerwärmung immer früher in den Frühling startet. Durch einen Temperaturanstieg von 0,7 Grad Celsius in den letzten 100 Jahren beginnt der Frühling inzwischen zwei bis drei Wochen früher, haben Experten herausgefunden.
Anders als Blumen, Sträucher und Bäume richten sich die meisten Vögel eher nach der Tageslänge, die vom Klimawandel natürlich nicht beeinflusst wird, und bleiben so im alten Rhythmus. Die temperaturabhängige Gruppe würde also früher in den Frühling starten, die tageslängenabhängige müsste in ihrem alten Rhythmus bleiben - so die Theorie. Experten sprechen davon, dass Lebensgemeinschaften von Tieren und Pflanzen sich zeitlich auseinander entwickeln, also asynchron verlaufen. Doch passiert das tatsächlich? Und mit welchen Konsequenzen?
Jahreszeiten-Forschung: Augen auf, Sensoren an!
Um herauszufinden welche Folgen diese Verschiebung der Jahreszeiten auf das Ökosystem hat, untersuchen Wissenschaftler auf der ganzen Welt dieses Phänomen. Die Wissenschaft, die solche immer wiederkehrenden Entwicklungserscheinungen im Jahresablauf untersucht, nennt sich "Phänologie". Eine eigentlich uralte Wissenschaft, die zurzeit einen regelrechten Boom erfährt. Die wichtigste Methode der Forscher ist dabei zunächst die reine Beobachtung, allerdings nicht mehr nur mit den Augen, sondern mit modernsten Geräten: Wissenschaftler fahren große Geschütze auf: Türme so hoch wie die höchsten Bäume bauen sie in den Wald, damit sie die Vorgänge in der Baumkrone nicht mehr mit dem Fernglas beobachten müssen - zusätzlich kommen CO2-Messgeräte, Web-Kameras, Sensoren für Sonneneinstrahlung und Luftfeuchtigkeit zum Einsatz. Außerdem gehen Forscher in die Natur und messen verschiedenste Parameter von Pflanzen und Tieren wie Größe oder Entwicklungsstand. Das Ziel ist es, eine riesige Menge von Daten zu produzieren, damit sich die Verschiebung der Jahreszeiten stichhaltig belegen lässt und sich die Welt auf die Folgen vorbereiten kann.
Meisen ohne Raupen?
Anne Charmantier erforscht auf der Insel Korsika wie die Blaumeisen mit dem Klimawandel zurechtkommen. Denn die Eiablage der Blaumeisen ist erstaunlich genau auf die Vorgänge des Frühlings abgestimmt. Der Blaumeisennachwuchs frisst bis zum Verlassen des Nestes insgesamt 1.800 Raupen, die meisten davon neun Tage nach dem Schlüpfen. Also muss die Eiablage der Blaumeisenweibchen zu einem genau festgelegten Zeitpunkt erfolgen, nämlich so, dass die Jungen neun Tage, bevor es die meisten Raupen gibt, schlüpfen.
Doch wann es wie viele Raupen gibt, ist von den Pflanzen abhängig. Denn Raupen fressen Blätter, entwickeln sich also im Rhythmus der Pflanzen. Das Futter der Vögel ist nun also durch die Klimaerwärmung früher da als sein Jäger. "Das ist eine Herausforderung", erklärt Anne Charmantier, "dass sich die Meisen in Zukunft mit wärmerem Klima nach wie vor effizient fortpflanzen. Also dass sich die Meisen immer noch passend, synchron zur Umwelt fortpflanzen, auch wenn die sich ändert."
Dass sich die Raupen tatsächlich immer früher entwickeln, konnte Anne Charmantier mit Auffangbehältern, die sie mit ihren Kollegen unter Bäumen aufgespannt hat, nachweisen. "Für uns ist das ein Schlüsselinstrument, denn so können wir direkt die Anzahl von Raupen messen, die den Blaumeisen zur Verfügung stehen. Zwei Mal die Woche zählen wir sie, und so können wir abschätzen, wann es die meisten Raupen und somit die besten Bedingungen für die Küken gibt."
Meisen können sich anpassen - bis zu einem gewissen Grad
Immerhin konnten Anne Charmantier und ihre Vorgänger durch 35 Jahre Forschung zeigen: Die Blaumeisen in der Mittelmeerregion brüten inzwischen tatsächlich früher und konnten sich so an das Raupenvorkommen anpassen. Doch wie machen die Blaumeisen das? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Zum einen könnten die Meisen den Zeitpunkt ihrer Eiablage "bewusst" an den verfrühten Frühling anpassen, indem sie den Zustand der Natur wahrnehmen. Eine Hypothese besagt nämlich, dass Meisen anhand des Geschmacks der Knospen an den Bäumen den richtigen Moment der Eiablage bestimmen können. "Es gibt aber noch einen zweiten Mechanismus, über den die Blaumeisen sich anpassen könnten, die Mikroevolution", erklärt Anne Charmantier. Die Tiere, die sich früh fortpflanzen, werden viele Nachkommen haben. Diejenigen, die spät schlüpfen, werden durch natürliche Selektion eliminiert. So legen die Individuen der Population genetisch bedingt von Generation zu Generation früher und früher Eier."
Aber in anderen Teilen Europas hat der Klimawandel ein anderes Gesicht. In Holland gewinnt der Frühling nicht von Anfang an, sondern erst nach einer scheinbar normalen Startphase, plötzlich an Fahrt. Wenn die Meisen hier also ihre Eier schon gelegt haben, wird es auf einmal wärmer. Mit fatalen Folgen, weiß Anne Charmantier. "Die Eltern können den Jungen nicht genug Futter bringen. Deshalb greifen sie auf andere Insekten zurück, die einen geringeren Nährwert haben und weniger Wasser enthalten. Die Jungen entwickeln sich dadurch nicht so gut, weniger sind in der Lage zu fliegen - ganz einfach, weil sie schlecht ernährt sind."
Warme Aussichten
Das Beispiel der Meisen zeigt: Eine gewisse Anpassung an klimabedingt verschobene Abläufe ist möglich. Doch das braucht Zeit, die der Klimawandel in seiner jetzigen Geschwindigkeit vielen Lebewesen nicht lässt. Der Temperaturanstieg von 0,7 Grad Celsius in den letzten 100 Jahren lässt den Frühling in der Pflanzenwelt schon zwei bis drei Wochen früher beginnen. Doch die Temperatur wird noch weiter ansteigen. Die Prognosen der Forscher sagen: Pflanzen werden in höhere Lagen ausweichen, Tiergruppen werden mit umziehen und Lebewesen werden sich begegnen, die sich vorher nie getroffen hätten. Um solche Szenarien zu untersuchen, wird die Arbeit der Jahreszeiten-Forscher weitergehen.
Autoren: Francois-Xavier Vives, Sarah Weiss (SWR)
Stand: 06.11.2015 13:46 Uhr