So., 20.05.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Schiffe als Riffe
Thomas Zurawski hat es schon immer in die Tiefe gezogen. Früher hat er als Bergmann unter Tage Kohle gefördert, heute lebt er auf der kleinen maltesischen Insel Gozo und arbeitet als Tauchlehrer. Dabei zieht es ihn manchmal in Tiefen, die für den normalen Sporttaucher tödlich wären und in dem man ohne spezielles Atemgas nicht überlebt. Aber dort unten liegen die für ihn attraktivsten Tauchziele: faszinierende Schiffswracks. Der Nachteil vieler Wracks rund um Malta: Sie sind oft nur per Boot erreichbar, und die normalen Sport- und Ferientaucher haben wegen der großen Tiefen keine Chance, dorthin zu kommen. "Und so entstand die Idee, Schiffe nahe der Küste in flacherem Wasser zu versenken", erzählt Thomas Zurawski, "um den vielen Tauchern, die hierher kommen, etwas Neues zu bieten."
Wracks locken Fische an
Mit den Wracks am Meeresgrund verbinden Taucher, Naturschützer, Biologen und Fischer aber noch eine zweite Hoffnung. Wracks sollen nämlich auch der Meeresbiologie dienen. Fische finden hier Schutz vor Strömung und Feinden. Algen oder Korallen können an ihnen "Wurzeln schlagen". Wracks verwandeln sich schnell in künstliche Riffe.
Die ersten absichtlich geschaffenen künstlichen Riffe entstanden im 17. Jahrhundert in Japan, um Fische anzulocken und die Algenernte zu erleichtern. Mittlerweile hat sich die Idee weltweit durchgesetzt. Aber es gibt auch gescheiterte Versuche, künstliche Riffe zu schaffen. In den 1970er-Jahren hatte ein Meeresbiologe die Idee, Altreifen in ein riesiges Riff zu verwandeln. Zwei Millionen Reifen wurden ins Meer vor Fort Lauderdale (USA) geworfen. Eine riesige Müllhalde, auf der weder Korallen wuchsen, noch Fische sich wohl fühlen wollten.
Schiffe dagegen sind bei Fischen äußerst beliebt: Manche Schiffe werden schon zwei Stunden nach ihrem Versenken von den ersten Fischen dauerhaft besiedelt. Manche Wracks, wie etwa das Küstenwachen-Schiff "Spar" vor der Küste North Carolinas, ist von einer dichten Wolke unzähliger Fische umgeben, und Dutzende furchteinflößender Sandtigerhaie ziehen dort ihre Runden. Rings um die "Spar" findet man jedoch nur Sand, ohne das Wrack wären die vielen Fische nicht dort.
"So etwas hatten wir uns auch auf Gozo erhofft", sagt Thomas Zurawski. "Unsere Idee: Wenn wir nahe an der Küste ein Schiff versenken, dann ist den Tauchern geholfen und den Fischern langfristig auch. Denn wir erwarteten, dass sich die Fische am Wrack explosionsartig vermehren und die angrenzenden Riffe bereichern."
Schiffe-Versenken mit Hindernissen
1999 lag das erste Schiff startklar zum Versenken vor der Küste Gozos. Die "Xlendi" war eine ausgediente Fähre, die früher die Strecke Malta-Gozo bedient hatte. Ein Feuerlöschboot schoss tonnenweise Wasser auf Deck, gleichzeitig wurden spezielle Schotten im Rumpf geöffnet, durch die Wasser ins Schiff drang. Nach einiger Zeit begann die "Xlendi" zu sinken, und schließlich verschwanden auch die höchsten Schiffsaufbauten in der schäumenden Flut.
Doch unter Wasser zeigte sich, dass die Versenkung nicht wie geplant verlaufen war. Die "Xlendi" hatte sich gedreht und war kopfüber auf dem Sand gelandet. Die Masten, die Kapitänsbrücke, der Schornstein, die vielen Eingänge – attraktive Tauchobjekte und Fischverstecke - alles wurde unter der Tonnenlast des Schiffe zerquetscht.
Das Wrack ist heute ein gefährlicher Tauchplatz: Wer ins Schiff eindringt, kann sehr schnell die Orientierung verlieren, denn alles steht auf dem Kopf. Nur sehr erfahrenen Wracktauchern ist ein Eindringen in die "Xlendi" zu empfehlen. Außen sieht man lediglich den nicht sonderlich interessanten Schiffsrumpf. Aber die Gozitaner gaben nicht auf: Im Jahr 2004 wurden gleich zwei Schiffe versenkt, diesmal weitaus professioneller, und heute liegen die Schiffe "Xlendi", "Karwela" und "Comino Land" dicht nebeneinander vor der Küste.
Ein Lebensraum, der bröckelt
Für die Tauchtouristen, die nach Gozo kommen, sind die versenkten Schiffe inzwischen eine der Hauptattraktionen. Pflanzen, Röhrenwürmer, Muscheln und Seesterne nehmen die Wracks nach und nach in Beschlag. Auf dem Weg vom Bug zum Heck durchschwimmt der Taucher Gänge und Laderäume, und selbst hier, im geheimnisvollen Dunkel des Schiffsinneren, leben Fische und andere Tiere. Trotzdem: "Die Hoffnung, die wir hatten, und mit der wir auch bei den Fischern und Behörden argumentiert haben, dass sich das Leben von den Wracks aus explosionsartig ausbreiten würde, die hat sich nicht erfüllt", sagt Thomas Zurawski.
Biologen der Uni Malta haben unter anderem festgestellt, dass der Lebensraum Wrack gar nicht so stabil ist wie angenommen. Überall an den Schiffen blättert der Lack ab und mit ihm darauf festgewachsene Tiere. Aluminiumteile zerfallen im aggressiven Salzwasser zu weißem Staub. Und überall nagt der Rost. Wahrscheinlich sorgen auch die vielen Taucher für so viel Unruhe, dass manche Fische eher an anderen Orten laichen.
US-Forscher haben an künstlichen Riffen vor der amerikanischen Küste entdeckt, dass die Zusammensetzung der Fischpopulationen an Schiffswracks eine andere als an natürlichen Riffen ist. Man findet viel mehr "pelagische Arten", also Fische, die normalerweise eher auf hoher See leben. Ein Ersatz für ein natürliches Riff ist so ein versenktes Schiff also nicht. Allerdings sind Malta und Gozo mittlerweile als Eldorado für Wracktaucher bekannt.
Autor: Ulf Marquardt (WDR)
Stand: 13.11.2015 14:31 Uhr