So., 08.01.12 | 17:03 Uhr
Das Erste
Schwarzkittel im Schlaraffenland
Vor 60 Jahren waren Wildschweine in Schleswig-Holstein ausgerottet. Auch in Baden-Württemberg, Sachsen und in fast ganz Niedersachsen gab es keine Wildschweine mehr. Selbst vor 30 Jahren waren die Waldbewohner noch selten: "Das war 'ne Sensation, wenn einer mal ein Wildschwein geschossen hat", erinnert sich Förster Siegfried Rakowitz. "Früher hat man viel Kaninchen und Hasen gejagt." Heute hingegen schießt Rakowitz in seinem Forst in Niedersachsen weit mehr Wildschweine als Kaninchen. Denn die Schweine haben sich in den letzten Jahren sehr stark vermehrt. Der Grund dafür ist einfach: Es geht ihnen prächtig.
Vom Wald in die Felder
Durch den Klimawandel gibt es weniger kalte Winter und die Landwirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr zugunsten der Wildschweine verändert. Flächen mit Monokulturen werden immer größer, und immer häufiger wächst darauf eine Pflanze, die Wildschweinen ideale Bedingungen bietet: Mais. Die meterhohen Pflanzen werden eigentlich angebaut, um in Biogasanlagen verarbeitet oder an Mastschweine verfüttert zu werden. Aber der Mais bietet auch den wilden Schweinen reichlich Nahrung - und beste Deckung vor den Jägern! "Der Mais ist für die Wildschweine im Sommer ein Wald. Da kriegen wir sie nicht raus. Und das ist das Problem," sagt Hans Angelus Meyer, Landwirt aus Sandbostel in Niedersachsen. Den Wildschweinen geht es im Mais so gut, dass viele von ihnen ihren alten Lebensraum ganz und gar verlassen. Sie verbringen den gesamten Frühling und Sommer in den Feldern und kehren erst im Spätherbst in den Wald zurück, wenn der Mais abgeerntet ist.
Risikofaktor Wildschwein
Für die Maisbauern, deren Ernte die Wildscheine fressen, ist das natürlich ein Problem. Aber nicht nur Landwirte stört der enorme Zuwachs bei den Tieren. Die wilden Schweine tauchen auch zusehends in Dörfern und Städten auf, graben Vorgärten um, verursachen Autounfälle. Sie jagen sogar Politikern Angst ein. Denn mit der Zahl der Wildschweine wächst die Sorge, dass sie die Schweinepest auf die zahlreichen Mastschweinezuchten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen übertragen könnten. Geschätzter Schaden: acht Milliarden Euro.
Fett und frühreif
Oliver Keuling ist Biologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Er untersucht seit längerem die enorme Vermehrung der Wildschweine in Deutschland und beobachtet eine erstaunliche Entwicklung: Die Tiere pflanzen sich immer früher fort. Viele Bachen werden bereits mit acht Monaten trächtig, in einem Alter, in dem sie noch Milchzähne haben und als Frischlinge gelten. Vergleichbar wäre das beim Menschen mit einer Schwangerschaft bei einer Zehnjährigen, so Keuling. Auch hier der Grund: das reiche Nahrungsangebot, das die Wildschweine in den Maisfeldern finden. "Früher hatten die Wildschweine mit acht Monaten nicht so einen hohen Körperfettanteil wie heute, und das ist auch bei uns Menschen das Ausschlaggebende, wann die Pubertät, die Geschlechtsreife einsetzt."
Wissenschaftler auf der Jagd
Keuling und sein Team begleiten viele Jagden auf Wildschweine in Niedersachsen. Sie entnehmen Proben von Gebärmutter und Eierstöcken, um herauszufinden, wie viele Tiere bereits als Frischlinge geschlechtsreif werden und ob der Schweinezuwachs überhaupt noch durch die Jagd eingedämmt werden kann. Andere Methoden werden bereits diskutiert, zum Beispiel eine Anti-Baby-Pille für die Sau. Aber damit gibt es ein Problem, sagt Keuling: "Sie funktioniert bisher nicht über eine Schluckimpfung. Und wenn ich nah genug komme, um die Schweine zu spritzen, dann kann ich sie auch schießen! Wir sind noch nicht weit genug mit den anderen Methoden."
Saugute Aussichten
Dass ein harter Winter den Schweinezuwachs begrenzt, ist unwahrscheinlich. Denn dieses Jahr mästet nicht nur der Mensch mit seinen Monokulturen die Schweine - die Natur packt besonders viele Eicheln obendrauf. Biologe Keuling ist überzeugt: Auch 2012 wird ein extrem gutes Wildschweinejahr!
Autorin: Christine Buth (NDR)
Stand: 13.11.2015 13:53 Uhr