Sa., 15.05.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Sonnenkult: Was der Mensch im Namen der Sonne so anstellt
Im Altertum hatten Sonnengötter dramatische Rollen: Der griechische Helios raste im Streitwagen über den Himmel, der persische Mithra schwang seine Lichtkeule gegen den dunklen Geist des Bösen, und ein unbarmherziger Sonnengott zwang die Azteken, ihn mit herausgerissenen Menschenherzen gnädig zu stimmen. Sonnenkulte sind mächtig – und helfen, das Volk in Schach zu halten. Außerdem: Wissenschaftlich vermessen treibt der Sonnenkurs nach und nach die Zivilisation voran: Zeitmessung und Kalender, das bringt die Sonne über die Menschen – und damit die durchgetaktete Arbeitsethik.
Die Wissenschaft nimmt der Sonne ihre "Göttlichkeit"
Schritt für Schritt nimmt die Wissenschaft der Sonne ihre Göttlichkeit: Sie kreist gar nicht behütend und strafend um uns – wie im geozentrischen Weltbild versichert. Der Mensch und seine Erde stehen nicht im Mittelpunkt und im Fokus eines himmlischen Lichts. Die Erde kreist vielmehr um eine Sonne, der es gleichgültig ist, was so alles um sie kreist. Außerdem ist sie relativ klein, wie die moderne Astronomie gnadenlos feststellt: Sie ist kleiner als Hyperriesen, Überriesen, helle Riesen: Unsere Sonne ist ein "gelber Zwerg", Leuchtkraftklasse Fünf, galaktische Regionalliga, quasi. Und sie ist nur einer von mehreren 100 Milliarden Sternen allein in unserer Milchstraße. Unsere Sonne: völlig überschätzt?
Die Sonne im Dienst des Marketings
Die Rettung unseres Leuchtzwerg-Zentralgestirns vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit geschieht 1975: Da entwirft eine dänische Studentin ein Protestlogo: „ATOMKRAFT? NEJ TAK“, oder auch: „NEIN DANKE“. Es ist bis heute das Werbe-Gesicht der Sonne: Positiv, auch in rustikalen Lagen – etwa unter Wasserwerfer-Beschuss bei Antiatomkraft-Demos. Statt auf Spaltung setzt die Sonne auf die konstruktivere Kernfusion. Mit der Erfindung der Solarzelle erreicht die Vermarktung der Sonne einen Höhepunkt: Ihre Kraft ist nun zählbar und wird eingespeist in den ökonomischen Warenfluss. Wer irgendetwas mit Wahrheit oder Wellness verkaufen will, wirbt mit ihr. Das scheint auf zudem irgendwie gesund zu wirken – wie auch gebräunte Haut. Obwohl es sich inzwischen herumgesprochen haben sollte, dass der Preis dafür kann hoch sein, zum Beispiel bei Hautkrebs. Die Sonne bestraft Eitelkeit und Hybris. Das erfuhr schon Ikarus, der ihr zu nahekam. Die Mythologie erinnert uns daran: Fürchtet die Sonne!
Doch wieder das "himmlische Strafgericht"?
Das zeigt auch der Klimawandel. Es scheint, als würde unser brodelndes Zentralgestirn nun doch wieder zum himmlischen Strafgericht werden: Ihre Energie befördert den Treibhauseffekt. Ein Klimaforscher mahnt: "Wenn wir nicht ändern, was wir zurzeit mit unserem Planeten tun, dann wird die Sonne uns irgendwann braten."
Wir müssen also wieder Opfer bringen – keine Herzen herausreißen, sondern uns ein Herz fassen: Lernen, mit weniger auszukommen, umzukehren. Energie, um unsere Welt zu nähren, hat die Sonne noch für etwa fünf Milliarden Jahre. Es liegt an uns, wie lange uns der Sonnengott noch gnädig sein wird.
Autor: Oliver Wittkowski (SWR)
Stand: 14.05.2021 13:03 Uhr