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Tiergifte: Mit Gift heilen?

Vogelspinne in Nahaufnahme
Heilen mit Tiergiften? | Bild: SWR

Schlangenbisse, Skorpionsstiche oder Hautkontakt mit Nesseltieren – Tiergifte können für diejenigen, die mit ihnen in Kontakt kommen, Tod und Verderben bedeuten. Für andere sind sie dagegen Hoffnungsträger: Denn Forscher vermuten in den teilweise hochgiftigen Substanzen auch heilsame Wirkung für den Menschen.

Zu ihren Vertretern gehören auch die beiden Wissenschaftler Tim Lüddecke vom Fraunhofer Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie und Björn von Reumont vom Institut für Insektenbiologie der Universität Gießen. Beide gehören der "Animal Venomics Research Group" an. Die Forscher möchten mehr über die Zusammensetzung von Tiergiften herausfinden. Ziel des Projekts ist es, Toxine, also einzelne Inhaltsstoffe der Gifte, zu finden, die sich für eine spätere pharmazeutische Anwendung eignen könnten. Gar nicht so leicht: "Die Suche nach einem Medikamentenkandidaten in Tiergiften ähnelt auf jeden Fall einer Schatzsuche", erzählt Tim Lüddecke. "Vermutlich ist es so, dass die nächste Generation an Medikamenten, die wir entwickeln können, durchaus in diesen Tiergiften zu finden ist. Wir müssen halt nur das entsprechende Toxin identifizieren."

Gifttierarten: Unerforschte Schatzkammer

Ein Wespenspinne klettert am Rand einer Petrischale empor.
Im Fokus: Das Gift der Wespenspinne | Bild: SWR

Doch das ist leichter gesagt als getan. Immerhin schließt die "Schatzkammer" rund 200.000 Gifttierarten mit ein. Darunter befinden sich knapp 50.000 Spinnenspezies. Über zehn Millionen neue Toxine, schätzen die Forscher, sollen sich alleine in dem "Giftpool" der Achtbeiner finden lassen. So gilt denn auch ein Gros der Aufmerksamkeit des Forschungsprojekts den einheimischen Spinnen. Eine Gruppe, über deren Gifte man bisher so gut wie noch nichts weiß.

Besonders die Wespenspinne (Argiope bruennichi) haben die Wissenschaftler genauer unter die Lupe genommen. Bis vor Kurzem war es noch sehr schwierig bis unmöglich so kleine Gifttiere zu untersuchen. Denn die in ihnen enthaltenen Giftmengen reichten für die nötigten Bestimmungstests schlicht nicht aus. Neue Labormethoden haben dies geändert. Toxine lassen sich nun in Bakterien vermehren. Man kann einfach die Toxin-Menge herstellen, die man braucht.

Doch dafür müssen die Wissenschaftler erst einmal an das Gift gelangen. Manchmal sind dafür aufwendige Such- und Sammelaktionen in entlegenen Gebieten notwendig. Hin und wieder reicht aber auch eine Autofahrt von Gießen nach Rheinland-Pfalz, genauer gesagt, in das Reptilium nach Landau. Um an neues Probenmaterial zu kommen, entnimmt Tim Lüddecke giftigen Speichel eines Kapwarans mit einer Pipette. Doch so schonend geht es nicht immer. Bei der Wespenspinne müssen die Giftdrüsen herausgeschnitten werden, um an das Gift zu gelangen. Für das Tier endet diese Art der Giftentnahme tödlich. Ein Tod zugunsten der Forschung.

Evolutives Wettrüsten

Mit der Entwicklung von Tiergiften hatte die Natur eines bestimmt nicht im Sinn: Dem Gegenüber etwas Gutes zu tun. Ganz im Gegenteil: Tiergifte, die zumeist aus kurzkettigen Eiweißen bestehen, gelten als die wirkungsvollsten Waffen im Tierreich.

Doch dass hinter den Toxinen nicht nur schädliche Wirkweisen stecken, zeigt sich an Bienengift. Mit dem darin enthaltenen Toxin Mellitin konnten im Laborversuch die Tumorzellen einer sehr aggressiven Brustkrebsart abgetötet werden. Dies gelang innerhalb einer Stunde, ohne die gesunden Körperzellen zu schädigen.
Zweites Beispiel: Der Mittelmeerskorpion. Er gilt als einer der giftigsten Skorpione überhaupt. Aber auch im Chemie-Cocktail seines Gifts verbirgt sich Nutzbringendes für den Menschen: Mit dem darin enthaltenen Eiweiß Chlorotoxin lassen sich Hirntumore sichtbar machen.

Im Laufe der Evolution wurden die Tiergifte perfekt auf potenzielle Angreifer oder bevorzugte Beutetiere angepasst. Zu diesem Zweck wirken sie sehr spezifisch und effektiv auf ganz bestimmte Körperrezeptoren ein. Durch diese Eigenschaften eignen sie sich perfekt für den Einsatz als Medikament. "Bisher gibt es nur wenige Medikamente aus Tiergiften, aber diejenigen, die es geschafft haben, sind mit die besten, die wir kennen", sagt Tim Lüddecke. Und genau deshalb widmet er sich auch seiner aufwendigen Schatzsuche – ein Aufwand, den andere scheuen: "Die Entwicklung eines Medikaments aus einem Tiergift oder aus einem anderen Naturprodukt ist sehr kostenintensiv und zeitaufwendig. Man spricht von mindestens zehn Jahren. Die Pharmaindustrie scheut solche Investitionen natürlich erstmal und deswegen liegt diese Aufgabe häufig in den Händen von Forschungsinstituten“, sagt Lüddecke. Letztere kümmern sich dabei vor allem um die Grundlagenforschung.

Tiefe Einblicke in die Gifte

Um die in Tiergiften enthaltenen Toxine identifizieren zu können, wird mittels Gelelektrophorese, die "Boten-RNA" nach ihrer Größe aufgetrennt und in Bandenmustern sichtbar gemacht. Jeder Boten-RNA-Strang enthält die genetische Information für den Aufbau jeweils eines Toxins. Björn von Reumont erklärt: "In der vergleichenden Sequenzanalyse versuchen wir die besten Kandidaten aus dem Gift der Wespenspinne zu finden, indem wir die Sequenzen gegen bereits bekannte Toxinsequenzen vergleichen." Konkret wird dabei geschaut, ob es Übereinstimmungen mit der Boten-RNA von bereits bekannten Toxinen gibt. Ist das nicht der Fall, hat man ein neues Toxin gefunden.

Stichwort Gelelektrophorese
Mithilfe der Gelelektrophorese kann man Moleküle voneinander trennen und sichtbar machen. Dieses Verfahren ist eine grundlegende biotechnologische Technik, bei der Makromoleküle nach Größe und Ladung getrennt werden. Sie wird häufig verwendet, um Proben von DNA, RNA oder Proteinen zu analysieren und zu manipulieren.

Stichwort Massenspektrometrie
Die Massenspektrometrie ist eine analytische Methode, um die Masse und die Häufigkeit von geladenen Teilchen zu ermitteln. In der Proteinanalytik wird das Verfahren intensiv für die Identifizierung von Proteinen anhand der relativen Molekülmasse sowie zur Peptid-Sequenzierung eingesetzt. Zusätzlich lassen sich Ableitungen zur dreidimensionalen Struktur der Proteine erstellen.

Zusätzliche Informationen gewinnen die Wissenschaftler über die Massenspektrometrie. Dabei kann, unter anderem, die Struktur der einzelnen Toxine analysiert werden. So sind Rückschlüsse auf die biologische Funktion der Giftstoffe möglich. Das könnte eine antibiotische Wirkung sein oder die Fähigkeit, die Schmerzleitung in Nervenzellen zu unterdrücken. Viele verschiedene Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Epilepsie, Stoffwechselstörungen, Krebserkrankungen und viele mehr, könnten mithilfe der Toxine behandelt werden, so die Hoffnung.

Gift der Wespenspinne: Goldgrube oder finanzielles Grab?

Ein Mann füllt Tiergift mit einer Pipette in ein kleines Probengefäß
Achtung bei der Dosierung! | Bild: SWR

Die Erforschung des Gifts der Wespenspinne ist noch lange nicht zu Ende. Doch es gab bereits einige Überraschungen. So fanden die Wissenschaftler eine Reihe von neuartigen Biomolekülen, die zuvor noch nie bei Spinnen entdeckt wurden. Was das wert ist? Es gibt viele Fallstricke und Risiken auf dem Weg vom Tiergift zum Medikament. Bei einer Überdosierung der teilweise hochgiftigen Substanzen, drohen schwere Nebenwirkungen.

Ein weiteres Problem ist, dass viele Tiergifte aus Eiweißen bestehen. Diese Proteine werden aber im Magen abgebaut und verlieren damit jegliche Wirkung. Deshalb müssen die meisten Giftstoffe biochemisch umgebaut werden, damit sie die Magenpassage überstehen und über den Darm in die Blutbahn gelangen können. Das kann sehr aufwendig sein.

Ein Beispiel für eine gelungene Medikamentenentwicklung ist die Gila-Krustenechse: Wissenschaftler isolierten aus dem Speichel des Tieres ein Toxin, auf dessen Basis ein Medikament entwickelt und 2005 zugelassen wurde. Es hilft Diabetikern dabei, ihren Blutzuckerspiegel zu senken. Allerdings ist es eines von aktuell nur zehn Medikamenten, die bis zur Marktreife entwickelt werden konnten. Ob das Gift der Wespenspinne zur Goldgrube wird oder letztlich nur Geld kostet? Die Antwort darauf liegt in der Zukunft.

Autor: Markus Plawszewski (SWR)

Stand: 24.01.2021 12:40 Uhr

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