Sa., 23.01.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Kostbares Blut: Lebensretter Wattwurm
Es begann vor 25 Jahren mit reiner Grundlagenforschung in der Bretagne. Der Meeresbiologe Franck Zal untersuchte damals Tiere, die unter extremen Umweltbedingungen leben und überleben. Ein Tier hatte seine Aufmerksamkeit besonders erregt: der Wattwurm (Arenicola Marina). Franck Zal erinnert sich: "Ich wusste, es gibt da diesen Wurm am Strand. Den Wattwurm Arenicola Marina. Ich fragte mich, wie kann der Wurm zwischen Ebbe und Flut atmen? Es war also reine Grundlagenwissenschaft, eine meeresbiologische Frage eben. Und als ich die untersuchte, fand ich heraus, dass der Wurm aufhört zu atmen, wenn Ebbe ist."
Denn Wattwürmer haben – wie Fische – Kiemen. Sie können nur unter Wasser atmen. Doch statt bei Ebbe zu ersticken, halten Wattwürmer einfach die Luft an. Wie ist das möglich? Diese Frage machte ihn neugierig. Franck Zal: "Ich untersuchte den Wurm und fand heraus, dass sein Hämoglobin sehr besonders ist: Es kann viel mehr Sauerstoff speichern als etwa das menschliche Hämoglobin." Es schwimmt frei im Blut, steckt also nicht wie beim Menschen in roten Blutkörperchen. Davon abgesehen ist aber seine Struktur der des menschlichen Hämoglobins ähnlich. Der Meeresbiologe hatte einen enorm effektiven Sauerstoffspeicher entdeckt!
Statt Blutbeutel: Konzentriertes Wattwurm-Hämoglobin
"Am Anfang haben sie über mich gelacht: 'Was erzählst du da über einen Meereswurm?' Wir sind die Mediziner, und du willst hier im Krankenhaus über Würmer reden?“, erzählt Franck Zal. Doch mittlerweile nehmen die Mediziner den Meeresbiolgen ernst. Der war schon früh davon überzeugt, dass das Wattwurm-Hämoglobin medizinisch einsetzbar ist – weshalb er dann auch die Universität verlassen und sein eigenes Unternehmen "Hemarina" gegründet hat.
Das Biotechunternehmen hat inzwischen mehr als zwanzig Mitarbeiter*innen. Das Präparat, dass sie aus dem Wattwurmblut gewinnen enthält konzentriertes Hämoglobin. Eine kleine Flasche davon könnte einen Blutbeutel ersetzen – zumindest in der Theorie, denn noch ist das Präparat in der klinischen Untersuchung, über eventuelle Nebenwirkungen noch zu wenig bekannt.
Erstes Einsatzgebiet: Transplantationen!
Der Transplantationsmediziner Yannick Le Meur forscht und operiert an der Uniklinik in Brest. Der Wissenschaftler untersucht die Wirksamkeit des Wattwurmpräparats. Zwar ist er etwas vorsichtiger mit seinen Prognosen als Franck Zal, doch wenn er an das Potenzial des Wattwurmhämoglobins für Organtransplantationen denkt, gerät er ins Schwärmen: "Dieses Präparat ist extrem wichtig, denn es kann Sauerstoff in das Gewebe bringen."
Bei einer Transplantation werde ein Organ zwischen der Entnahme und dem Einpflanzen in einer Lösung am Leben gehalten. Weil diese Lösungen keinen Sauerstoff enthalten, darf dabei nicht so viel Zeit vergehen, sonst könnten die Organe absterben. „Das Hämoglobinmolkül aus dem Wattwurmblut kann die Organe dagegen mit Sauerstoff versorgen“, sagt Yannick Le Meur. Eine erste Studie mit gut sechzig Patienten habe gezeigt, dass das Hämoglobinmolekül sicher sei und funktioniere.
Wenn die Ergebnisse bestätigt werden, könnten Transplantationsorgane vor dem Einpflanzen länger als bisher aufbewahrt werden. Derzeit läuft eine größere Studie mit mehr als 600 Teilnehmern. Doch Transplantationen sind nur eine mögliche Anwendung: Theroretisch könnte das Wurmhämoglobin immer dann eingesetzt werden, wenn irgendwo im Körper Sauerstoff fehlt.
Hoffnung für Schlaganfall- und Covid-19-Patient*innen
Die Hoffnungen beruhen auf den ganz speziellen Eigenschaften des Moleküls. Es ist deutlich größer als das menschliche Hämoglobin – und es kann 50 Mal so viele Sauerstoffatome transportieren wie das menschliche. Gleichzeitig ist es viel kleiner als die Blutzellen. Es kommt also auch dann weiter, wenn die Gefäße verengt oder verstopft sind. Ein mögliches Einsatzgebiet wäre zum Beispiel die Behandlung von Schlaganfällen. Aber auch schlecht verheilende Wunden oder der Sauerstoffmangel von Covid-19-Patient*innen.
Für Franck Zal scheint das Potenzial des Wattwurmmoleküls fast unbegrenzt zu sein: "Wir können uns zig Anwendungen vorstellen! Und das für einen Sauerstoffträger der aus diesem einfachen Wurm kommt." Der Mediziner Yannick Le Meur wäre schon mit weniger zufrieden: "Wenn Sie so einen guten Sauerstoffträger haben, dann ist die Versuchung groß zu sagen: 'Warum nehmen wir es nicht als Blutersatz, warum nicht als Sauerstoffversorger für Covid-Patinenten und so weiter?' Aber ich denke, selbst wenn dieses Molekül nur bei Transplantationen effektiv ist, dann ist das eine wirklich große und wichtige Sache."
Die Ursprünge des Wattwurms Arenicola Marina reichen 350 Millionen Jahren zurück. Vielleicht hinterlässt er seinem jüngsten Mitbewohner bald mehr als nur Sandhaufen.
Autor: Hilmar Liebsch (SWR)
Stand: 24.01.2021 12:34 Uhr