Sa., 17.10.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Gefährliche Plastikrückstände – Wir alle haben Weichmacher im Urin
Der aufblasbare Pool-Flamingo, der pflegeleichte Vinyl-Boden, die schicke Kunstlederjacke - Produkte, die sich in vielen Haushalten finden und die etwas gemeinsam haben: Sie enthalten Weichmacher, sogenannte Phthalate. Diese Chemikalien sind nicht nur in unserem Alltag allgegenwärtig – sondern auch in unseren Körpern. Experten halten das für besorgniserregend, denn einige Weichmacher können nachweislich die Gesundheit schädigen.
Verkaufsschlager Weichmacher
Phthalat-Weichmacher sind ein Verkaufsschlager der Chemischen Industrie. Sie werden Kunststoffen beigemischt, um sie biegsam und elastisch zu machen. Eine Million Tonnen werden allein in Westeuropa jährlich produziert. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Phthalate. Sie kommen vor allem in Produkten aus Weich-PVC zum Einsatz: Folien, Sport- und Freizeitartikel, Fußbodenbeläge, Kabelisolierungen oder Kunstlederbezüge. "Wir haben praktisch fortlaufend und dauernd Kontakt zu diesen Stoffen", sagt Dr. Marike Kolossa, Toxikologin am Umweltbundesamt in Berlin. Sie untersucht im Auftrag der Bundesregierung die Belastung der Bevölkerung mit Schadstoffen – auch mit Weichmachern. "In Kabelummantelungen, in Duschvorhängen, in Verpackungen, in Spielzeug, in zahlreichen Haushaltsprodukten sind diese Stoffe enthalten. Wir können ihnen also gar nicht entgehen."
Das Problem: Phthalate sind nicht fest im Kunststoff gebunden. Sie dünsten mit der Zeit aus und reichern sich in der Raumluft oder im Hausstaub an. Auch Lebensmittel sind häufig mit Weichmachern belastet. Denn Weichmacher sind fettlöslich. Bei der Verarbeitung können sie in Lebensmittel übergehen, etwa wenn Öl durch phthalathaltige Schläuche geleitet wird. Aber auch fettreiche Lebensmitteln, die in Folie verpackt sind, können Phthalate enthalten.
Phthalat-Weichmacher: So belastet ist die Bevölkerung
Über Nahrung und Atemluft gelangen Phthalat-Weichmacher in den menschlichen Körper. Im Gegensatz zu anderen Umweltgiften reichern sie sich nicht im Gewebe an, sondern werden mit dem Urin wieder ausgeschieden. Der häufige Kontakt mit den Stoffen im Alltag führt aber trotzdem zu einer nachweisbaren Dauerbelastung. Das zeigen Daten des Umweltbundesamts. In repräsentativen Bevölkerungsstudien untersuchen die Toxikologen regelmäßig Urinproben auf ihren Phthalat-Gehalt. "Wir finden in jeder Probe, die wir in den letzten 15 Jahren untersucht haben, Weichmacher, und zwar viele Weichmacher", so Marike Kolossa. "Wir haben praktisch in jedem Menschen im Moment ungefähr zehn Weichmacher, die wir nachweisen können."
Zwischen 2014 und 2017 hat Marike Kolossa im Rahmen der Deutschen Umweltstudie zur Gesundheit (GerES IV) gezielt Kinder und Jugendliche untersucht – und festgestellt, dass sie im Schnitt zwei- bis fünffach so hoch mit Phthalaten belastet sind wie Erwachsene. "Das kommt einfach daher, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen mehr essen, trinken und atmen pro Kilogramm Körpergewicht", erklärt sie. "Und sie haben noch ein paar zusätzliche Aufnahmequellen, zum Beispiel eben den Staub, wenn kleine Kinder auf dem Boden rumkrabbeln."
Unterschätztes Gesundheitsrisiko Weichmacher
Die erhöhte Belastung von Kindern hält die Toxikologin für besonders problematisch. Denn mittlerweile ist wissenschaftlich erwiesen, dass einige Phthalate sich schädlich auf die Gesundheit auswirken. Einmal im Körper, wirken sie ähnlich wie natürliche Hormone und können dadurch das sensible Hormonsystem stören – mit gravierenden Folgen, vor allem bei Männern. "Was man beobachtet hat, ist ein Einfluss auf die Spermienqualität und überhaupt die Fortpflanzungsfähigkeit des Mannes", erklärt Marike Kolossa. "Und das ist eben besonders bedeutsam, weil wir wissen, dass die Spermaqualität der Männer in Deutschland und speziell der jungen Männer jetzt über Jahrzehnte abgenommen hat."
Auch an der Entstehung von anderen hormonell bedingten Erkrankungen wie bestimmten Krebserkrankungen, Diabetes oder Übergewicht könnten Weichmacher beteiligt sein.
Erhöhtes Allergierisiko durch Phthalaten
Überhaupt sind die gesundheitlichen Effekte von Phthalaten noch nicht ausreichend untersucht, findet Gunda Herberth, Umweltimmunologin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Sie beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Weichmacher auf das Immunsystem. Im Rahmen einer Langzeitstudie hat sie die Phthalat-Belastung von schwangeren Frauen gemessen und später auch deren Kinder regelmäßig untersucht. Dabei stieß sie auf einen klaren Zusammenhang: Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft einer höheren Konzentration an Weichmachern ausgesetzt waren, erkrankten in den ersten Lebensjahren häufiger an Neurodermitis oder Asthma.
Bereits im Nabelschnurblut dieser Kinder fanden die Leipziger Forscher weniger Immunzellen. Vor allem fehlten Zellen, die normalerweise verhindern, dass das Immunsystem überaktiv reagiert. "Das heißt, sie hatten keinen Schutz mehr vor der Entwicklung einer allergischen Erkrankung oder nur einen geringeren Schutz", erklärt Gunda Herberth. Herberths Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, dass es ein besonders sensibles Zeitfenster gibt: Bei Ungeborenen und Kleinkindern scheinen sich Phthalate stärker auf den Organismus auszuwirken als bei Erwachsenen.
Effekte auf das Erbgut durch Weichmacher
Die Forscher vom Helmholtz-Zentrum wollten ganz genau verstehen, auf welche Weise Weichmacher in die Steuerungsprozesse des Körpers eingreifen. Dafür hat der Umweltimmunologe Tobias Polte die Mutter-Kind-Studie in ein Mausmodell übertragen. Er setzte trächtige Mäuse dem Weichmacher BBP aus und untersuchte anschließend deren Nachwuchs. Dabei nahmen er und seine Kollegen vor allem das Erbgut der jungen Mäuse in Augenschein. Dabei zeigte sich, dass der Weichmacher die Funktion eines entscheidenden Gens beeinflusst. Dieses Gen hemmt normalerweise die Aktivität von allergiefördernden Immunzellen. Der Weichmacher schaltet dieses Gen offenbar aus. "Und das führt letztendlich dazu, dass die Empfindlichkeit, eine Allergie beziehungsweise ein allergisches Asthma zu bekommen, deutlich erhöht wird", so Tobias Polte.
Gesetzliche Regulierung zeigt keine ausreichende Wirkung
2015 hat die EU die Verwendung der fünf gesundheitsschädlichsten Phthalate stark eingeschränkt. Die besonders fortpflanzungsschädigenden Substanzen DEHP, DBP und BBP sind in Babyprodukten und Spielzeug generell verboten. Gemäß der EU-Chemikalienverordnung REACH dürfen sie auch nicht in Lacken, Kleb- oder Duftstoffen enthalten sein, die an eine breite Öffentlichkeit verkauft werden. Ein Verbot gibt es auch für den Einsatz in Kosmetika.
Untersuchungen des Umweltbundesamts zeigen, dass seitdem die Belastung der Bevölkerung messbar zurückgegangen ist. Allerdings längst nicht im erwarteten Ausmaß, konstatiert die Toxikologin Marike Kolossa: "Das ist für uns das wirklich Erstaunliche, dass wir über die letzten zehn Jahre viele Verbotsschritte hatten und dass wir diese Stoffe eben immer noch in allen Kindern und Jugendlichen finden, die wir untersucht haben. Wir hatten uns eine stärkere Abnahme erhofft."
Über die Gründe lässt sich nur mutmaßen. Zum einen sind PVC-haltige Produkte aus der Zeit vor der Regulierung noch in vielen Haushalten im Einsatz. Zum anderen können Importprodukte mit den verbotenen Weichmachern belastet sein.
Phthalat-Alternativen: Problemfall Ersatzstoffe
Europäische Hersteller greifen immer stärker auf neue Phthalat-Alternativen zurück, die als weniger schädlich gelten, vor allem die beiden Substanzen DEHTP und Hexamoll DINCH. Die Toxikologen vom Umweltbundesamt beobachten seit einigen Jahren, dass die Belastung der Bevölkerung mit diesen Ersatzstoffen zunimmt.
Nach bisherigen Erkenntnissen haben sie keine hormonähnliche Wirkung auf den menschlichen Körper. Marike Kolossa beobachtet die Entwicklung dennoch mit Sorge, denn die neuen Ersatzstoffe sind deutlich schlechter untersucht: "Für mich ist es das toxikologischer Sicht immer bedenklich, wenn wir Stoffe in nennenswerten Mengen im Körper finden, die da physiologisch nicht reingehören, weil wir eben immer wieder festgestellt haben, dass bei intensiverer Erforschung wir eben vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren noch Wirkungen finden, mit denen wir heute überhaupt nicht rechnen."
So lassen sich Phthalate im Alltag vermeiden
Weichmacher sind in unserem Alltag so allgegenwärtig, dass es unmöglich ist, ihnen vollständig aus dem Weg zu gehen. Dennoch lässt sich der Kontakt durch einfache Verhaltensmaßnahmen reduzieren:
- Da besonders stark verarbeitete Fertiggerichte mit Weichmachern belastet sind, empfiehlt Marike Kolossa, Speisen lieber frisch zuzubereiten und sich abwechslungsreich zu ernähren.
- Um die Aufnahme der Chemikalien über den Hausstaub zu verringern, sollten Böden und Teppiche regelmäßig gereinigt und Innenräume gut gelüftet werden.
- Außerdem sollten Eltern darauf achten, dass Kleinkinder nur Dinge oder Spielsachen in den Mund nehmen, die dafür hergestellt und gedacht sind.
Autorin: Anke Christians (NDR)
Stand: 17.10.2020 13:58 Uhr