Sa., 11.02.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
Annette Behnken: Hoffnung auf ein Wunder
Wie viele von Ihnen habe ich in dieser Woche vor dem Fernseher gesessen und Bilder gesehen, die ich kaum ertragen kann. Bilder zum Heulen, zum Schreien und auch zum Wegsehen. Von Verwüstung, Zerstörung, Tod. Rettung. Verzweiflung. Das Bild von dem Vater, der die Hand seiner toten Tochter hält. Nicht loslässt, was ihm das Leben bedeutet. Seine Tochter. Und ich fühl das ganze Menschsein in diesem Bild und das ganze Unmenschliche der Situation. Und erinnere mich an eigene Trauer, wie ich loslassen musste. Und nicht wollte. Und an Trauergespräche, die ich als Pastorin geführt hab. Frauen, Männer, Kinder, die ihre Toten nicht loslassen wollten, konnten. Wenn es erstmal nur darum geht, da zu sein, mit ihnen auszuhalten, dass es keine Worte gibt. Und diese Menschen damit nicht allein zu lassen.
Dasein. Nichtausweichen. Mitaushalten.
Das Bild des Vaters, der die Hand der Tochter nicht loslässt, ging weltweit durch die Zeitungen. Und ich seh es an und frage mich: Dürfen wir das? Dürfen wir diesem Mann einfach so ins Gesicht sehen? In diesem Moment? Dürfen wir das?
Ich meine, ja. Ich meine, wir dürfen das nicht nur, sondern wir sollen hinsehen. Leid muss gesehen werden. Die, die es aushalten müssen, müssen angesehen werden. Wir müssen sehen, was die Menschen im Erdbebengebiet brauchen. Und auch das, was sie nicht brauchen. Korruption. Fehlplanung. Und das Ausnutzen von Not für politische Zwecke.
Leid muss gesehen werden. Die, die es aushalten müssen, müssen angesehen werden. Wenn für sie die Welt aufhört, sich zu drehen. Weil ein Stück vom Universum fehlt. Hinsehen. Die Namen der Toten aussprechen. Den Namen der toten Tochter. Irmak. Für die Tausenden, die in diesen Tagen starben und sterben. Irmak. Für ihren Vater und die, die die Hand ihrer Liebsten nicht loslassen können. Irmak. Für die, die weiterleben. Die Tausenden, denen weggerissen wurde, was ihnen das Leben bedeutet. Irmak. Für die, die auf Rettung gewartet haben. Für die, die gerettet wurden. Für die, die vor Ort sind, um zu helfen.
Kirche soll trösten, das hör ich oft. Ich kenn die Erwartung: Als Pastorin müssen Sie doch was Tröstendes sagen! Und ich kenn selber die Suche nach Trost, nach einem Satz, der heilt oder wenigstens verstehen lässt. Aber ich hab erfahren, dass das so nicht funktioniert. Trost geht nicht mal eben schnell. Ich glaube, es ist jetzt noch nicht die Zeit für Trost. Es ist die Zeit des Nichtloslassenwollens und -könnens. Es ist die Zeit des Schreckens und Grauens und der Trauer und der Klage. Und für uns, hier, ist es die Zeit, die Menschen in der Türkei und in Syrien nicht allein zu lassen. Helfen, ganz konkret, vor Ort und auch von hier aus mit Spenden, so wie es ja schon geschieht.
Hinsehen. Dasein. Mittragen. Berührbar bleiben. Das ist so wenig. Und so viel.