Ein Gespräch mit Heinrich Breloer

»Das Recht auf den Zweifel, auf das Denken in Widersprüchen und das Beharren auf der Vernunft«

Regisseur Heinrich Breloer mit den Schauspielern Tom Schilling (l) und Burghart Klaußner (r) vor dem ersten Drehtag.
Regisseur Heinrich Breloer mit den Schauspielern Tom Schilling (l) und Burghart Klaußner (r) vor dem ersten Drehtag. | Bild: WDR / Bernd Spauke

Lang erwartet und nun endlich fertiggestellt: Ihr Film in zwei Teilen über Bertolt Brecht. Seit wann beschäftigt Sie dieser Autor und was fesselt Sie persönlich emotional und intellektuell an ihm?

Schon lange bevor ich 1977 in Augsburg die noch lebenden Freunde Brechts und seine erste Liebe Paula Banholzer zu Gesprächen für einen Film besuchte und sie mir ihre Geschichten von Bi und Bidi erzählten, hatte ich mich als Student mit Brecht beschäftigt. Und schon davor waren es seine Gedichte, die mir im Gymnasium zur Seite standen, als ich anfing, mich aus dem Gefängnis eines katholischen Internatsschülers zu befreien. Jeder Vers aus der "Hauspostille" war ein Schnitt in den noch fest gefügten katholischen Himmel. Das alles hatte dieser freche Bursche mit Zigarre und Ledermantel geschrieben, scheinbar unverletzbar blickte er in die Welt. So hatte ich ihn erst verstanden – eigentlich eher inhaliert. Aber je mehr ich von der sichtbaren Vorderseite seiner Person, von seiner Selbstinszenierung aufgenommen hatte, desto mehr wollte ich wissen: Wie hat der das gemacht? Wie hat der sich im Leben durchgesetzt? Mehr und mehr war ich auf die unbekannte, vielleicht dunkle Seite von Bertolt Brecht gespannt. Wie hing die Inszenierung mit dem Mann dahinter zusammen?

Brecht selbst hielt den Blick auf sich als Privatperson für überflüssig und uninteressant. Er wollte nur für "die Sache", für die er stand, wahrgenommen werden. Warum ist Ihnen dieser Blick hinein ins Private, den Sie mit Ihrem Zweiteiler tun, so wichtig? Welche neuen Erkenntnisse ergeben sich daraus, vor allem auch in Bezug auf sein Schaffen?

Er sprach nicht gerne über seine Person oder gar persönliche Probleme. Das ist vor allem denen aufgefallen, die ihn nach 1945 kennen lernten und danach fragten. Brecht fertigte solche Fragen gerne mit einer stilisierten Lebensgeschichte ab. Warum dieses Ausweichen? – Ein junger Mann aus gut bürgerlichen Verhältnissen mit einem abgebrochenen Medizinstudium hatte bald vier Kinder von drei Frauen, aber gleichzeitig hunderte bedeutender Gedichte und dazu einige Dramen verfasst. Sollte das alles ein Ergebnis der Klassenkämpfe sein? Sollten da keine ganz persönlichen Eigenschaften und seelischen Notwendigkeiten bewusst oder unbewusst ein Antrieb gewesen sein? Einer der schwach und scheu ist, sich aber eine Lederhaut wachsen lässt, um mit List und Härte nach oben zu gelangen.

Diese Widersprüche in der Figur wurden mir erst nach und nach zu Fragen, die ich dann auch den Menschen stellen konnte, die ihn persönlich erlebt hatten. Ja, es war offenbar sein Glück, produktiv zu sein. Aber war es nicht auch die notwendige Abwehr von Ängsten? Dazu der sehnliche, brennende Wunsch, anerkannt und letztlich berühmt zu werden; der ständige Druck, sich gegen die bürgerliche Gesellschaft, die er ablehnte, durchzusetzen, gerade mit diesem Werk, das sie anklagte.

Wie all das zusammenhängt – uninteressant? Das fand ich nun gar nicht. Man kann davon ausgehen, dass es eben auch persönliche Probleme waren, warum er sich nicht anschauen und schon gar nicht von sich erzählen und schreiben wollte. Die frühen Tagebücher sind hier eine Ausnahme, die späteren Journale sind dann vor allem Arbeitsberichte. In den frühen Aufzeichnungen finden wir Spuren seiner Herzanfälle, die bis hin zur Todesangst über ihn herfielen, ohne dass er das im Griff hatte oder gar "sein Herz kommandieren" konnte, wie er einmal übermütig formuliert. Auch in den Gedichten finden sich Spuren seiner persönlichen Geschichte. Die Ursachen für das menschliche Verhalten sah er – ganz Materialist – in der Basis, der sozialen Lage. Der Mensch ist änderbar, wenn sich die soziale Lage ändert. Aber er muss auch seine Lage erkennen, um sie zu ändern. Diese dialektische Denkbewegung, marxistisch geprägt, setzt sich dann immer deutlicher durch.

Während Sie bei Thomas Mann die Türen hinter dem Arbeitszimmer des "Zauberers" für das Publikum bewusst geschlossen haben, öffnen Sie diese nun bei Brecht und führen die Zuschauer mitten hinein in die Denk- und Entstehungsprozesse seiner Bühnenwerke. Eine Perspektivverschiebung? Und warum das im Falle Brechts?

Thomas Mann hat zunächst ganz für sich allein am Schreibtisch als Erzähler seine Figuren auftreten lassen. Dabei hat er eigentlich bei all seinen Maskenspielen immer von sich erzählt. Aber bei so einem Produktionsprozess kann man dem Romancier nicht so ohne weiteres mit der Kamera über die Schulter blicken und das dann in einer Filmszene zur Aufführung bringen. Ganz anders im Falle der brechtschen Theaterregie: Hier kann man sehr wohl dem Autor im schöpferischen Prozess zusehen und diese Probenarbeit und das Probenglück von Brecht mit seinem Ensemble im Film zeigen. Hier erklärt er seine Absichten, befragt er kritisch die Wirkung des Stücks aufs Publikum.

Was soll den Zuschauern deutlich werden? Welche Probleme in ihrem Leben sollen ihnen gerade jetzt vorgespielt werden, mit welchen Lösungs möglichkeiten? Wie kann man das am besten zeigen? Das grundlegende Handwerk des neuen epischen Theaters wird vorgeführt: Bitte niemals eins werden mit der Figur, nicht "Theater spielen", nicht den Eindruck erwecken wollen, dass da oben auf der Bühne wirklich ein König Lear, ein Hamlet steht. Die Zuschauer in der neu gegründeten DDR sollten beispielsweise lernen, woher im Laufe der "deutschen Misere" die schlechten Lehrer gekommen sind, die sie so falsch erzogen haben, dass sie den letzten Krieg so bereitwillig mitgemacht haben. Brecht will das aufgraben und ändern. So sollte im "Hofmeister" dieses Schreckbild eines schlechten Lehrers, der sich selber entmannt, dazu dienen, im Alltag der DDR neue, andere Lehrer zum Rückgrat zu ermutigen.

All das wurde von den Assistenten aufgeschrieben, später sogar auf Tonband mitgeschnitten. Für mich ein Königsweg, sich dem Autor, dem Regisseur und der Person Brecht zu nähern. Denn immer wieder spielt das Leben unversehens hinein in die Proben. "Der Faust kann das Ansprechen der Fräuleins nicht", sagt der Regisseur zum Faust. Und wir wissen schon lange, dass es Brecht selber war, der in Jugendtagen seine Freunde vorschickte, wenn es darum ging, ein Mädchen zu einem Rendezvous zu überreden. Und wie die Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen auf der Probenbühne inszeniert wurde und zugleich alle um ihn herum wussten, welche Liebesgeschichte gerade zwischen Brecht und dem Gretchen Käthe Reichel in Gang war, wenn sie zu den Privatproben in seine Wohnung kam: So etwas war dann für mich als Drehbuchautor nebenbei auch zu gewinnen. Bei den Inszenierungen, besonders "Urfaust", wurde aber auch die politische Auseinandersetzung mit der Partei sichtbar, über die ganz oben im Staat ungeliebte Spielweise des epischen Theaters, das von der SED und den Freunden in Moskau vehement abgelehnt wurde. Viele Gründe also, sich diese Proben genauer anzusehen und daraus Szenen für den Film zu entwickeln.

Ihr Zweiteiler wirft ein neues Licht auf Leben und Werk des modernen Klassikers. Stimmt unser Brecht-Bild noch?

Ich glaube, dass wir alle verschiedene Bilder von Brecht mit uns herumtragen. Das ist auch eine Generationenfrage. Nach der Rückkehr Brechts aus dem Exil, als er in die neu gegründete DDR ging, war er im Westen schnell der kommunistische Gottseibeiuns. In der DDR war er von der Partei geduldet, aber nicht geliebt. Sie wollten ihn einhegen, kontrollieren, aber dabei das Ansehen, das sie mit ihm hatten, nicht verlieren. Er war anscheinend für linke Oppositionelle in der DDR ein Vorbild und ein heimlicher Held. Dass er in der DDR blieb – für so manchen Künstler ein Grund, seinem Vorbild zu folgen, zu versuchen, sich mit List gegen die Diktatur der SED zu behaupten, und eben nicht in den Westen zu gehen.

Die Studenten der sechziger Jahre im Westen hatten aus anderen Gründen in ihm ein Vorbild gefunden, und sein Ruhm bekam durch die Studentenbewegung einen gewaltigen Schwung. Ich habe damals in mancher Studentenbude Poster mit seinem listigen Gesicht gesehen: der Weise, der einem so viele Beispiele dafür lieferte, dass man auf dem richtigen Weg war. Dass hinter dieser Fassade eine andere Wirklichkeit verborgen war, wollten viele wohl gar nicht wissen. Es kam dann bald zu einer Spaltung des Brecht­Bilds, auf der einen Seite der unpolitische Künstler, der wunderbare Gedichte geschrie ben hat, die sich gut als autonome Kunstwerke interpretieren lassen, und der politische Dramatiker mit seinem Marxismus auf der anderen Seite.

Seit langem ist etwas in Gang, das man eine Art "Entkommunisierung" von Brecht nennen könnte. Man schaut auf ihn, als ob er eben nicht ein Kommunist gewesen wäre, der – wenn auch auf seine ganz besondere, undogmatische Art – mit der Lupe von Marx, Engels und Lenin die geschichtlichen Bewegungen zu lesen und zu interpretieren versuchte. Diese drei Klassiker standen immer als Fotos in seinem Arbeitszimmer, und es wäre eine Verfälschung, wenn man sie samt ihrer Silberrahmen dort entfernen würde. Auch nicht das von Lenin, der auch an den Massenmorden im Bürgerkrieg beteiligt war. Brechts Assistent Klaus Hubalek hat es einmal in einem Fernsehinterview gesagt, dass Brecht beleidigt gewesen wäre, wenn man ihn nicht als Kommunisten – und zwar als Kommunist im Leninschen Sinne – verstanden hätte.

In Ihrem Film zeigen Sie, dass Brecht an freien demokratischen Wahlen kein Interesse hatte, die Diktatur des Proletariats nötigenfalls auch gegen den Willen des werktätigen Volks durchsetzen wollte und bereit war, Wahrheiten über die stalinistischen "Säuberungen" in der Schublade verschwinden zu lassen. Vor diesem Hintergrund: Taugt Brecht eigentlich noch als Vorbildfigur?

Welcher Künstler taugt überhaupt als Vorbildfigur? Und dann: in welcher Hinsicht, für wen? Als Regisseur kann man seine Ratschläge und seine Technik, deutlich mehr Realismus auf die Bühne zu bringen, sehr gut gebrauchen. Brecht war für diejenigen, die ihn genauer kennen lernen konnten, ein lebender Widerspruch. Sehr deutlich hat das sein zeitweiliger Freund, der Autor Arnolt Bronnen, beschrieben: Wenn man Brecht in ein Zimmer sperrt und nach einer Stunde wiederkommt und aufschließt, findet man garantiert das Zimmer randvoll mit lauter Brechts. Wir werden, was diesen Punkt anbelangt, vielleicht mit den Zuschauerinnen und Zuschauern, auch mit den Schülerinnen und Schülern, die den Brecht als Stoff in der Schule "durchnehmen" sollen, interessante Diskussionen haben.

Brecht ist immer noch einer der meist gespielten Dramatiker im deutschsprachigen Raum. Warum ist das so? Was können seine Stücke, besonders auch einer jüngeren Generation, heute noch vermitteln?

Zwei Worte vor allem: Vernunft und Zweifel. Die zentrale Botschaft ist Brechts Glaube an die Vernunft. "Ich vertraue auf die Menschen und auf ihre große Lust zu denken." So sagt er es in unserem Film zu Wilhelm Girnus, einem Abgesandten Ulbrichts, der ihm zur Kontrolle ins Haus geschickt wurde. Das ist auch die Hoffnung des Galilei im heranbrechenden Zeitalter der Wissenschaft, bedroht von der Inquisition der Kirche. "Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft." Und so wie Galilei spricht, lasse ich es auch Brecht einmal direkt seinen Freund Caspar Neher sagen, dass er ohne diesen Glauben nicht die Kraft hätte, am Morgen aus seinem Bett aufzustehen. Wie die Vernunft die Kraft und Möglichkeit gibt, die Welt zu verstehen und zu verändern, so hilft der Zweifel dabei, immer wieder die eigenen Entwürfe zu überdenken. Denn im Unterschied zur Staatspartei und deren Verwaltung ewiger Wahrheiten stellte Brecht in seinem Denken dem Dogma das Modell gegenüber. Die "Murxisten" in der SED waren dabei, die Klassiker als Dogmatiker umzudeuten. Brecht als Marxist wollte die Modelle verändern, wenn sie die Wirklichkeit nicht hinreichend erklären konnten. Galilei hat man dafür den ersten Grad der Folter spüren lassen: das Zeigen der Instrumente. Die modernen Instrumente, das Gefängnis und das Lager in Sibirien, waren Brecht auch bekannt.

Aber nicht nur der Anspruch des Brechtschen Theaters – Vernunft und Zweifel –, sondern auch die Themen sind nach wie vor hochaktuell, die Fragen vor allem! Dazu nur ein paar Winke: "Mutter Courage" – wie verhältst du dich zum Krieg? Zum Pazifismus, zur Rüstungsindustrie?; "Der kaukasische Kreidekreis" – wem soll was gehören? Das geht von der Frage des Kindeswohls im Stück selbst bis zur Marktwirtschaft; "Der gute Mensch von Sezuan" – kann man nur gut sein wollen und trotzdem überleben? Dazu fällt einem nicht nur die Flüchtlingsdiskussion ein. Das sind doch alles brennende Fragen!

Gesellschaftspolitisch hat das Theater Brechts trotz unglaublicher Erfolge und ausverkaufter Vorstellungen seine ihm zugedachte Rolle, das sogenannte Proletariat für den Sozialismus zu aktivieren, nicht erreicht. Hat Brecht die Wirkungsmächtigkeit seiner Stücke überschätzt? Hat er dem Theater zu viel zugemutet?

Um es einmal auf einen Brecht­Satz zu bringen: Er wollte mit seinem Theater die Welt verändern. Aber hat er am Ende wenigstens die Welt des Theaters verändert? Sicher hat er darauf hingearbeitet, dass seine Art zu spielen Schule macht. Sowohl im Sozialismus der DDR als auch im Kapitalismus der Bundesrepublik. Aber schon das Entsenden seiner Schüler als Regisseure in andere Theater, die Entwicklung von vorbildhaften Produktionen und ihre Dokumentation in "Modellbüchern", all das verbreitete unter der politischen Führung der DDR eine Mischung aus Besorgnis und Schrecken. Schon da wurden die Stoppschilder aufgestellt. Immer wieder wurden Versuche gemacht, ihn einzuhegen. In der Bundesrepublik kam nach der deutlichen Positionierung Brechts für die DDR­Regierung, vor allem nach dem Aufstand vom 17. Juni, zunächst mal ein weitgehender Boykott seiner Stücke. Aber schon bald hat seine Methode überall im Theater und vor allem im jungen Fernsehen in die Fernsehspiele deutlich hineingewirkt. Kein Zufall, dass sein Lieblingsschüler Egon Monk dann bald das Fernsehspiel des NDR mit aufgebaut hat und als Regisseur einige Meisterstücke im Sinn auch von Brecht abgeliefert hat. Arbeiten, die auch mich als Student noch stark beeindruckt haben. "Ein Tag" zum Beispiel, das erste Fernsehspiel über ein deutsches Konzentrationslager. Und dieser Zug zur Realität im Fernsehen hat ja auch seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik gehabt.

Brecht und die Frauen. Ein weiteres großes Kapitel in Ihrem Zweiteiler. Brecht hat die Frauen, die er liebte, oft "skrupellos", wie er selbst in Ihrem Film zitiert wird, behandelt. Trotzdem waren ihm praktisch alle Frauen – und gerade auch die sehr modern und progressiv eingestellten – mehr oder weniger verfallen und bereit, sich auf ein gemeinsames Leben einzulassen. Wie erklären Sie sich diese immense Wirkung auf die Frauen?

Gewiss konnte Brecht, wenn er wollte, großen Charme entwickeln und eine besondere Aura um sich verbreiten. Im Gespräch muss er ungeheuer überzeugend gewesen sein, überwältigend mit seiner kraftvollen Sprache, die er ja auch im Alltag nicht abgelegt hat, und mit seinem dialektischen Witz. Die Frauen, die ihn liebten, wussten, dass sie es mit jemandem zu tun hatten, der großartige Gedichte und Stücke geschrieben hatte und der dabei war, die ganze Welt des Theaters zu revolutionieren. Sie spürten sein Genie. Und dem Genie zu dienen bedeutet ja auch immer, wenigstens ein bisschen daran teilzuhaben.

Freunde und Mitarbeiter, die die Filme schon gesehen haben, meinen, dass man dabei immer wieder an #Me Too denken müsse. Das sei fast unvermeidbar. Die Interviews und die Filme sind weit vor dieser Debatte entstanden; die Fragen und der Blick darauf waren aber auch schon vorher vorhanden. Die Filme sind allerdings unterwegs zu Bertolt Brecht, um ihn aus seiner Zeit und seinen Möglichkeiten heraus zu verstehen, so nah wie möglich an ihn heranzukommen und zu zeigen, was dabei zu sehen ist. Das moralische Urteil über das Gezeigte überlasse ich den Zuschauerinnen und Zuschauern.

Welchen Einfluss hatten die Frauen auf das Leben und – wichtiger noch – auf das Werk Brechts?

Einen zum Teil beträchtlichen Einfluss aufs Werk, wenn man etwa an Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin denkt. Quantifizieren möchte ich ihren Anteil an Brechts Schaffen aber nicht. Schon allein deswegen, weil die Mitarbeit auch darin bestand, Gesprächspartner zu sein, mitdenken zu können, eigene Ideen beizusteuern, zu kritisieren. Das brauchte Brecht unbedingt für seine Produktion, ohne das ging es nicht. Besonders gut war da natürlich jemand, der "immer da war" – so beschreibt es Elisabeth Hauptmann einmal. Brecht hat sie mit 12,5 Prozent an den Tantiemen der "Dreigroschenoper" beteiligt. Er selber bekam 62,5 Prozent.

"Er will alle und alles. Ein Menschenfresser in seiner Art." – sagt Lion Feuchtwanger über ihn. War Brecht das, ein "Menschenfresser"? Nicht nur in Bezug auf die Frauen?

Viele Künstler sind auf ihre Weise "Menschenfresser": Sie nehmen das, was sie sehen und erleben, mit hinüber in ihre Welt und spielen damit ihre Spiele. Darin ist auch immer schon eine Distanz zur Welt mit gegeben. "Er war jemand, der Besitz haben wollte, Besitz auch von Menschen.", so hat es Theo Lingen gesagt, und so ist es von ihm im Film zu hören. Einen gut entwickelten Egoismus darf man Brecht sicher bescheinigen.

Brechts Jugendliebe Paula Banholzer nimmt im ersten Teil Ihres Films breiten Raum ein. Welche Bedeutung hat dieses erste Liebesverhältnis und die Augsburger Provinz für die spätere Entwicklung Brechts?

Man darf wohl sagen, dass Brecht in Paulas Leben stärker verändernd hineingewirkt hat als sie in seines. Über den Verlust und die Erinnerung schreibt er dann 1930 ins Tagebuch, dass sie ihm "wegen einer merkwürdigen Gleichgültigkeit entglitten" ist und ihm in der Erinnerung vorkommt "wie die Gestalt aus einem Buche, das ich gelesen habe". Da waren auch schon zwei, drei andere Kapitel mit anderen Frauenfiguren in seinem Lebensroman geschrieben. Augsburg hat er nach der Rückkehr aus dem Exil nur kurz auf der Durchreise mit Ruth Berlau besucht. Die zerbombte Stadt hat ihn "ziemlich kalt gelassen", wie offensichtlich auch Paula, die er da nicht mal besuchen wollte. Er hatte das Augsburg seiner Jugend hinter sich gelassen.

Mit "Brecht" kehren Sie nach der Romanverfilmung der "Buddenbrooks" zum dokufiktionalen Erzählen zurück, dessen Erfinder Sie gemeinsam mit Horst Königstein ja sind. Warum bot sich die "offene Form" gerade für Leben und Werk Brechts besonders an?

Ich hatte die Erzählungen aus Augsburg in Bild und Ton 1977/78 dokumen tiert. Nun konnte ich in den letzten sieben Jahren noch einmal diejenigen besuchen, die Anfang der fünfziger Jahre dabei waren, dieses neue Theater mit Brecht zu entwickeln. Es war der letzte Augenblick, sie noch einmal mit all ihrer Altersmilde und Altersradikalität ihre Erinnerungen erzählen zu lassen. Diese Erzählungen waren dann neben der Recherche in den Archiven eine gute Grundlage, sich dem Denkmal von Brecht zu nähern und den Klassiker vom Podest herunter zu bitten, damit wir ihm als möglichst lebendigem Menschen begegnen können. Mit allen seinen genialen Begabungen, aber eben auch mit seinen Fehlern und den Kosten, die so ein Genie auslösen kann.

Welche Berührungspunkte sehen Sie formal zwischen Brechts Konzept des epischen Theaters und dem Ihrigen des dokufiktionalen Films?

Der Grundgedanke: sich im Spiel mit viel Spaß über unsere Probleme zu unterhalten. Die Methode: die Verfremdung in der Darstellung. Verfremdung als Weg, das Gewusste fremd und daher fragwürdig zu machen. So, wie Brecht die Schauspieler an die Rampe treten lässt, um über ihre Rolle zu sprechen, und damit die Illusion bricht, so gibt es diese Distanzierung auch, wenn ich das Spiel mit der Dokumentation breche. Nicht einfach nur unterbreche, sondern beide Ebenen kalkuliert konfrontiere: Auf die Illusion des Dabeiseins beim Spiel folgt die dokumentarische Realität – so sehen sie aus nach all den Jahren, so reden sie, so erinnern sie sich, die wirklichen Menschen hinter dem Spiel. Diese Bilder wirken ihrerseits zurück auf die Figuren im Spiel. Durch diese Wechselwirkung setze ich etwas Drittes, Neues in Gang. Ein Aufbrechen und Nachdenken über diese fremde Lebensgeschichte, die ich dann etwas distanzierter beobachten kann, wird möglich. Damit zieht eine andere Art von Realismus in die Geschichte ein.

Brechts Methode hatte ich ja schon als Student kennengelernt, sozusagen im Peymann­Ensemble an der Studiobühne Hamburg. Das Fernsehen war dann genau der richtige Platz, an dem man das Spiel von Brecht fortsetzen konnte. Gerade das Dritte Programm, weit weg von Quoten­ und anderen Rücksichten, bot uns den Platz, alle möglichen Erzählformen auszuprobieren.

Für Ihren Zweiteiler konnten Sie in allen Partien ein hochkarätiges Schauspielerensemble gewinnen. Was prädestinierte vor allem die beiden Brecht- Darsteller Tom Schilling und Burghart Klaußner für ihre Rollen?

Beim jungen Brecht hatte ich viele Schauspieler zum Casting eingeladen. Mal war es die verblüffende Ähnlichkeit mit Brecht, mal war es die seltsame Fremdheit, die von Brecht ausging, der vom Himmel herunter gepurzelte Sonderling, den ich in einem Schauspieler gesehen hatte. Am Ende war ich sehr froh, dass ich Tom Schilling überzeugen konnte, das Wagnis mit Brecht einzugehen. Tom ist sofort eine Persönlichkeit, wenn er vor die Kamera tritt – kein Persönchen. Der seltsam verführerische Charme, der von Brecht ausgegangen sein muss, das Geheimnis dieses genialen Menschen, das brachte er auch ohne Maske mit. Dazu kam: Tom hat selber eine Band, spielt die Gitarre und konnte die Brecht­Lieder auch ohne Playback singen! Er hat diese Begabung, sich durch das kalte Glas der Kameraobjektive bei den Zuschauern direkt in Herz und Verstand zu spielen.

Burghart Klaußner, mit dem ich schon seit Jahrzehnten immer wieder gearbeitet habe, war für den älteren Brecht, diesen lippenlosen Mann, schon von der Erscheinung her genau die richtige Wahl. Ihm glaubt man einfach, dass er "Mutter Courage" geschrieben hat. Nicht nur, weil er mit einer Erzählung jetzt selber ein viel beachtetes Debut als Autor hingelegt hat. Er kommt vom Theater und ist auf diese Brechtsche Spielweise bestens vorbereitet. Er hat sich viele Stunden lang die Mitschnitte der Brecht­Proben angehört und daraus eine Stilisierung der Person Brecht entwickelt, die uns diesen so besonderen Menschen näherbringt, weit weg von jeder simplen Imitation.

Neben den beiden "Brechts" gibt es weitere bemerkenswerte Besetzungsentscheidungen wie Adele Neuhauser als Helene Weigel oder Trine Dyrholm in der Rolle der dänischen Geliebten Ruth Berlau, um nur diese beiden herauszuheben …

Und dazu gehören ebenso ihre Entsprechungen der jungen Paula mit Mala Emde und die junge Helene Weigel, gespielt von Lou Strenger. Man möchte gar nicht aufhören, weitere Beispiele aus dem großartigen Ensemble zu nennen! Adele Neuhauser wird in ihren Möglichkeiten als Schauspielerin in meinen Augen oft noch unterschätzt. In diesem Fall war ein besonderer Moment für mich unvergesslich: Als sie ein großes Foto von Helene Weigel, das ich mit nach Wien gebracht hatte, mal so eben neben ihr Gesicht in die Kamera hielt: Es war eine beinahe erschreckende Ähnlichkeit. Wenn sie uns dann mit ihrem Wiener Schmäh bei den Proben den Tonfall der Weigel in den Raum holte, verstanden wir mehr vom Charakter der großen Schauspielerin und Intendantin. Auch die Schmerzen, die Brecht der Weigel bereitet hat, schienen unter der Haut von Adele zu lauern. Das gab uns bald das Gefühl, niemand anderes hätte die vielschichtige Persönlichkeit Helene Weigel spielen können.

Trine Dyrholm als dänische Geliebte Ruth Berlau – wer sie sieht, wird die Wahl sofort verstehen. Gerade sie war auch von der Kraft des Auftritts her ihrer Gegenspielerin Helene Weigel gewachsen. Und auch unserem Brecht gegenüber konnte sie ihren Anspruch auf Nähe und Liebe, ihren Schmerz und, bei aller Liebe, ihre Verzweiflung glaubhaft behaupten. Wieder einmal habe ich, wie bei den "Manns", in dieser Künstlerbiografie von Bertolt Brecht viel Glück mit der Auswahl und der Zusage so vieler hervorragender Schauspieler gehabt. Die

Die Kamera hat mit Gernot Roll einer der Altmeister der Bildgestaltung geführt. Mit ihm verbindet Sie eine jahrzehntelange intensive Zusammenarbeit ("Die Manns", "Speer und Er", "Buddenbrooks"). Was ist das Besondere an Gernot Rolls Arbeitsweise und Inszenierung Ihres Brecht-Films?

Seit den Filmen über das Leben der Manns, also seit 18 Jahren, habe ich alle Filme mit Gernot Roll als Kameramann gemacht. Wir sind ein Team, und er selber hat auch immer sein Team mit an den Drehort gebracht. Seinen Oberbeleuchter und auch Michael Praun, den Operator, der mit der Steady Cam so viele besondere Einstellungen, Kamerabewegungen und Fahrten möglich macht. Vor dem Dreh nehmen wir uns viel Zeit – für die Zwei­ oder Dreiteiler sind es manchmal Monate –, um vom Drehbuch her eine genaue Auflösung der einzelnen Szenen zu entwickeln. Mit diesem besonderen Drehbuch voller Einzeichnungen über die Auflösung kommen wir zu den Gewerken wie Bühnenbild, Maske und Kostüm. So gehen wir dann an den Drehort. Wir wissen also genau, was wir wollen, sind aber jederzeit bereit, diese Vorstellung zu verändern, wenn der Drehort oder die Schauspieler eine andere Einstellung nahelegen. Als Altmeister des Lichts ist Gernot schnell in seinen Entscheidungen. Er kann sofort seine Lampen umorganisieren, wenn die Schauspieler nicht richtig ins Licht eintauchen, damit das ganze Bild seine Magie bekommt, die das Kino ausmacht. Unser liebstes Wort dafür ist das schöne alte Wort "Lichtspiele".

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