»Bahnhof Wilhelmshöhe, es ist Herbst 2019 und die Stadt grauer, kleiner als in meiner Erinnerung. Ich kenne fast jede Ecke hier. Mord? Am Regierungspräsidenten? In Kassel? Meine Heimatstadt ein rechtsradikaler Hot Spot? Der mutmaßliche Mörder, Stephan Ernst, soll ein Bewohner dieser Stadt sein, die sich so gern im Glanz der documenta wähnt? Kunst? Avantgarde? Das Opfer, Walter Lübcke, 1977 selbst Pressereferent der legendären documenta, verteidigte 2015 als Regierungspräsident die Unterbringung von Geflüchteten in Lohfelden nahe Kassel. Hier kennt fast jeder den Mann, der gerne nach den Sitzungen rauchend draußen stand und freundlich jeden grüßte. Lübcke kümmerte sich – die Geste des gütigen Repräsentanten war ihm nicht fremd. Lübcke war ansprechbar.
"Schuss in der Nacht" schaut auch "in den Kopf" des Täters, will sich seinem vermeintlichen "Motiv" nähern. Ein Motiv, monströs genährt durch jene Politik, die gern von der "Überfremdung der Deutschen", von "Umvolkung", von der "Vertreibung der Deutschen" spricht – ein Motiv, beschleunigt unter anderem durch die faschistischen Fantasien des Massenmörders Breivik und des Christchurch-Attentäters in Neuseeland.
Wie wurde der mutmaßliche Täter Stephan Ernst, Bewohner eines Giebelhäuschens hinter Kassel – verheiratet, zwei Kinder – zum Mörder? Wer hat den Schläfer geweckt? Wie geriet das Opfer in das Fadenkreuz seines Mörders? Der Mord an einem Beamten, nicht einmal aus den ersten Reihen, an einem Mann, der regional tätig war: an Walter Lübcke, der sich für Geflüchtete einsetzte, und der dieses Engagement öffentlich gegen Kritik verteidigte – kein Linker, ein Mann der CDU. Welche Antworten hat Kassel auf diese Fragen? Eine Stadt mit knapp 200.000 Einwohner*innen, gespickt mit Rüstungsindustrie, im Krieg fast komplett zerstört. Hier lebt der Täter? Verborgen oder mittendrin?«
Kommentare