Gespräch mit Lars Jessen und Christina Sothmann
Regie und Buch
Der "Polizeiruf 110: Kindeswohl" kreist um den verhaltensauffälligen Keno und den behördlichen Umgang mit schwer erziehbaren Jugendlichen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Lars Jessen: Das kam bei mir aus dem privaten Bereich, meine Frau arbeitet viel in sozialen Einrichtungen. Durch ihre Erzählungen bin ich darauf aufmerksam geworden, dass die Arbeit im sozialen Bereich zunehmend privatisiert wird und was das eigentlich bedeutet: Wenn die Betreuung von Kindern und Jugendlichen abhängig gemacht ist von ökonomischen Rahmenbedingungen, werden diese Kinder und ihre Probleme zu einem Gut, mit dem die Menschen handeln. Das kann in der Konsequenz zu Missständen führen, wie wir sie in unserem Film beschreiben.
Die Jugendämter sind durch die steigende Zahl der Inobhutnahmen überfordert; auch das wird im Film angesprochen. Ist es da nicht logisch, dass sie Entlastung durch private Träger suchen?
Christina Sothmann: Die Tatsache, dass es private Träger sind, ist nicht das Entscheidende, sondern es kommt hinzu, dass die Jugendämter keine Möglichkeiten haben, deren Arbeit zu kontrollieren. Es geht also eher um ein organisatorisches Problem. Das ganze System, nach dem das funktioniert, scheint nicht wirklich gut durchdacht zu sein. Wenn man sich solche Fälle ansieht, wie wir sie beschreiben und wie sie auch in verschiedenen Medien geschildert wurden, scheint es doch Nachbesserungsbedarf zu geben, was die Organisation des Ganzen angeht.
LJ: Wir möchten vor allem auf den Rückzug des Staates in diesem Bereich aufmerksam machen, der solche Probleme erst provoziert. Das Allheilmittel Privatisierung, das bereits in anderen gesellschaftlichen Feldern zu großen Problemen führt, wird jetzt auch noch in der sozialen Arbeit durchexekutiert, und das ein Stück weit vorbei an der Öffentlichkeit. Es gibt sicher viele private Institutionen, die vernünftig und verantwortungsbewusst arbeiten. Uns geht es auch nicht darum, Leute in sozialen Berufen zu diskreditieren oder Jugendämter pauschal zu verurteilen. Das wäre erstens unangebracht und zweitens auch nicht zielführend. Wir würden uns aber freuen, wenn unser Film zu einer Diskussion darüber beitragen könnte, inwieweit der Staat sich eben nicht aus allen Fürsorgepflichten zurückziehen und das sozusagen dem freien Markt überlassen kann.
Keno ist in einer Wohngruppe untergebracht. Die Betreuerin Valli und Heimleiter Stig verfolgen unterschiedliche Ansätze in der Arbeit mit ihm. Worum ging es Ihnen in der Gestaltung dieser Szenen?
CS: Keno ist ja wirklich ein sehr schwieriger Junge, und wir wollten zeigen, dass die Menschen, die ihn betreuen und täglich mit ihm umgehen, auch an ihre Grenzen kommen. Solche Konflikte sind, glaube ich, Alltag, und diese Arbeit ist sehr schwierig und anspruchsvoll. Es ging nicht darum, Schwarz-Weiß zu zeichnen oder zu sagen, so muss man’s machen.
LJ: Es gibt offensichtlich Kinder, die verloren sind, wenn sie zu lange in ihren Strukturen bleiben. Da sind dann auch die besten erzieherischen Maßnahmen nichts mehr wert.
Kenos Bruder Finn und sein Freund Otto sind im Ausland untergebracht, bei polnischen Pflegefamilien. Man erschrickt über die Verhältnisse, in denen sie dort leben. Wie realistisch sind diese Beispiele?
LJ: Es gab in den letzten Jahren verschiedentlich Journalisten, die solche Fälle recherchiert und darüber berichtet haben. Ich würde mir nicht anmaßen, über den Sinn und Zweck solcher pädagogischen Maßnahmen im Ausland zu urteilen. Für mich liegt das Problem darin, dass das, was da passiert, von staatlichen Behörden im Prinzip nicht kontrolliert werden kann. So etwas muss doch professionell und pädagogisch begleitet werden. Aber offenbar kommt es vor, dass Kinder in unzugänglichen Regionen platziert werden, wo sie mehr oder weniger dem Schicksal einer Familie überlassen sind, von der man gar nicht weiß, ob sie ihrer Aufgabe überhaupt gewachsen ist.
CS: Hier kommt der Begriff Kindeswohl ins Spiel. Eigentlich sollte es ja bei allen pädagogischen Maßnahmen stets das oberste Gebot sein, dass es dem Kind wohlergeht. Aber insbesondere bei diesen Auslandsaufenthalten ist es oftmals so, dass die Kinder allein schon aus sprachlichen Gründen keine richtige Schule besuchen können, sondern via Internetschule unterrichtet werden. Es hapert auch oft an einer psychotherapeutischen Begleitung, obwohl es sich um hochtraumatisierte Kinder handelt und sie darauf eigentlich ein Anrecht hätten. Uns schockiert daran, dass es offenbar nicht immer darum geht, die Kinder zu heilen und dafür zu sorgen, dass es ihnen besser geht, sondern häufig einfach darum, dass sie irgendwo untergebracht sind, wo sie einigermaßen unter Aufsicht stehen. Das ist schon schwierig.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, dass Filmgeschehen teilweise aus der Perspektive der Jugendlichen zu schildern?
LJ: Wir haben lange darüber nachgedacht, ob man so eine Geschichte so offen erzählen kann, dass der Zuschauer von Anfang weiß, was los ist, denn es geht hier ja an keiner Stelle darum zu raten, wer der Mörder ist. Ich habe schon viele Krimis inszeniert und muss sagen, dass Whodunits mich häufig eher langweilen. Mir geht es eigentlich nie in erster Linie darum herauszufinden, wer’s war, sondern eher um die Frage, warum es dazu kommen konnte. Das finde ich viel interessanter.
CS: Für mich geht es hier auch um die Frage, was eigentlich das wahre Verbrechen in diesem Fall ist. Ist es der Mord an Stig oder ist es der Selbstmord von Otto? Zwischen diesen Polen bewegt sich die Handlung, und auch deswegen haben wir die unterschiedlichen Perspektiven gewählt.
Inwiefern war es für Sie reizvoll, Ihren Stoff mit den vorgegebenen Fäden des horizontal weitererzählten Rostocker "Polizeirufs" zu verweben?
LJ: Das war natürlich eine große Herausforderung. Es wäre wahrscheinlich einfacher gewesen, eine Geschichte zu schreiben, die aus sich heraus funktioniert hätte, ohne dass man das in ein Reihenformat hätte eingliedern müssen. Aber mir war diese Geschichte wichtig, und ich hatte das Gefühl, dass das genau das richtige Format dafür ist. Der Rostocker "Polizeiruf" ist sehr aufrichtig und erdverbunden und er tut auch immer ein bisschen weh; er biedert sich nicht an. Ich würde an dieser Stelle auch gern Elke Schuch erwähnen, die uns beim Schreiben als Dramaturgin zur Seite stand und einen sehr wichtigen Beitrag für die etwas ungewöhnliche Plotstruktur unseres Films geleistet hat. Das war ein konstruktives Miteinander und sehr geprägt von der Aufrichtigkeit, mit der wir die Geschichte erzählen wollen.
Wie haben Sie als Regisseur die Arbeit mit den – teilweise sehr jungen – Darstellern erlebt?
LJ: Nicht nur Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau, sondern auch das Team um die beiden herum, Uwe Preuss, Josef Heynert und Andreas Guenther, sind unglaublich starke Schauspieler, die auch den kleineren Figuren die ganze Dimension geben, die es für einen guten Film braucht. Das ist ein wahnsinnig starkes Schauspielerensemble, aber auch die Jungdarsteller, mit denen ich hier gearbeitet habe, haben eine wahnsinnig gute Energie mitgebracht. Vor allem Junis Marlon, der den Keno spielt. Er war extrem gut vorbereitet und hatte sich mit all diesen Dingen nicht nur gut beschäftigt, sondern auch emotional voll aufgeladen; das mitzuerleben, war schon Wahnsinn. Er ist das Herz dieses Films.
Ihr Film verstrahlt eine fast skandinavische Winteratmosphäre …
LJ: Es waren unfassbar harte Dreharbeiten, weil wir letzten Winter in dieser extrem kalten Phase gedreht haben und oft bei minus zehn Grad tagelang im Wald, an Straßen und Autobahn-Raststätten standen. Oder auf Gehöften in Polen. Ich finde ja immer, dass man der Wahrheit vielleicht ein kleines Stückchen näherkommt, wenn man sie auch bei den Dreharbeiten spürt. Darum haben wir alles da gedreht, wo es auch spielt. Für eine Fernsehproduktion, die nicht so üppig ausgestattet ist, ist das immer etwas Besonderes, aber alle haben sich sehr dafür eingesetzt, dass wir das hinbekommen haben, und ich glaube, es hat dem Film sehr gutgetan, dass wir da vor Ort waren.
(Das Interview wurde geführt von Birgit Schmitz.)
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