Gespräch mit Regisseur Raymond Ley
Was hat Sie als vielfach ausgezeichneten Doku-Dramatiker ins Fictionfach geführt?
Meine bisherigen Filme sind zwar doku-dramatisch geprägt, sie haben aber einen großen fiktionalen Anteil. "Eine mörderische Entscheidung" über das Bombardement von Kunduz oder "Letzte Ausfahrt Gera" über Beate Zschäpe sind wie Spielfilme inszeniert. Als Christian Granderath mich dann für diesen "Tatort" angefragt hat, war es ein kleiner Schritt, jetzt einmal jetzt einmal rein fiktional zu arbeiten. Die "dokumentarische Farbe" und Herangehensweise ist auch bei diesem "Tatort" noch zu spüren. Die ersten Bilder des Filmes hat unser Kameramann Philipp Kirsamer vor Drehbeginn gedreht. Wir haben mit unserer Hauptdarstellerin Mala Emde an einem Sonntag ausprobiert, wie es ist, mit einem Gesichtsschleier durch die Kieler Innenstadt zu gehen. Diese starken Bilder prägen nun Anfang und Ende des Filmes. In dieser ersten Improvisation ist auch das "Vermächtnis" an die Mutter entstanden – "Liebe Mama, wenn Du das liest, bin ich nicht mehr da ...".
Beruht Ihr "Tatort" auf einer Zeitungsgeschichte?
Im weitesten Sinne. Wir erzählen in unserem Film von einem Mädchen, das zum Islam konvertiert und kurz davor steht, nach Syrien zu gehen. Bei unseren Recherchen sind wir u. a. auf einen Fall gestoßen, der uns besonders interessiert hat. Es geht um eine 16-jährige Münchnerin mit Migrationshintergrund, die sich über die Türkei nach Syrien abgesetzt hat. Unsere Geschichte ist jedoch in einem deutschen Haushalt angesiedelt. Dazu haben wir einige Fälle aus Österreich und England recherchiert, um noch mehr über die Motive dieser jungen Frauen zu erfahren.
Aus Deutschland sind einem Bericht des Verfassungsschutzes zufolge bisher mehr als 100 islamistische Frauen in die Kampfgebiete gereist. Über die Hälfte der Frauen sind unter 25. Wie erklären Sie sich deren junges Alter?
Viele Mädchen, die plötzlich verschwinden, sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. Die beiden Freundinnen aus Wien waren 15 und 16, als sie nach Syrien gingen. Ihre Eltern sind Bosnier. Sie sollen Abschiedsbriefe hinterlassen haben, in denen es heißt: "Wir kämpfen für den Islam. Wir sehen uns im Paradies." Bei den Recherchen kam heraus, dass sie die Lage dort unten äußerst naiv eingeschätzt hatten. Alle stammten aus zerrütteten Familien, die Eltern waren geschieden, oft fehlte zu Hause der Vater.
Was sind diese Mädchen in den Augen der Dschihadisten: Mitkämpferinnen oder Trophäen?
Auf Mitkämpferinnen sind wir bei der Recherche nur selten gestoßen. Wir erfuhren von einigen Engländerinnen, die in zweiter Front gekämpft haben sollen. Die Mädchen finden sich in einer äußerst brutalen Realität wieder. In Frauenhäusern treffen sie zum ersten Mal auf die IS-Kämpfer. Wie auf dem Basar werden sie zum Verkauf angeboten. Es geht ähnlich zu wie in einem Bordell, aber die Situation der Frauen ist weit bitterer, weil sie sich nicht nach Stunden abwenden können. Sie sind von nun an einer vollkommenen Versklavung unterworfen.
Im Film wird das Mädchen Julia mit einem Kämpfer verkuppelt, der in Wahrheit für den Verfassungsschutz arbeitet. Gibt es solche Männer wirklich?
Dieser Liebhaber, der vom Staatsschutz angesetzt wurde und mit dem Julia über Skype kommuniziert und den sie in Syrien heiraten soll, ist eine reine Konstruktion. Die Figur dient dramaturgisch dazu, mehr Druck auf das Mädchen auszuüben – ihr eine "Liebe" und mögliche Zukunft vorzuspielen inclusive Heiratsantrag. Dass aber der Staatsschutz junge Frauen wie Julia unter Beobachtung stellt oder versucht, ihre "Mitarbeit" zu kaufen, um an die Hintermänner heranzukommen, ist keine Erfindung. Die Islam- und Terrorexperten sagten uns, das Verhalten des Staatsschutzes ist absolut nachvollziehbar.
Warum tut Julia sich das alles an?
Diesen Schritt irgendwie nachvollziehen oder gar "verstehen" zu können war uns sehr wichtig. Konvertieren ist ja die eine Seite, aber nach Syrien auszureisen, ist natürlich eine ganz andere Geschichte. Vieles erklärt sich über die Psychologie der Figur, insbesondere aus Julias Innenverhältnis zu ihrer Mutter, für die sie nur noch Hass übrig hat. Ich stelle mir Julia wie eine junge Aktivistin vor, die die Normen sprengen will, die immerzu beleidigt ist, weil die anderen alle Lügner und Heuchler sind und die Welt nur noch abgeschmackt ist. Da ist sehr viel Wut in ihr, die wir im Laufe der Geschichte mehr und mehr befeuern. Die größte Enttäuschung erfährt sie durch ihre Freundin Amina, die sie in den neuen Glauben als "Schicksalsgefährtin" einweist und zu der sie sich scheinbar auch hingezogen fühlt. Von dieser Frau wird sie betrogen und hintergangen.
Als sie im Vollschleier auf die Straße tritt, stößt sie auf offene Ablehnung. Passanten spucken vor ihr auf den Boden. Ist diese Reaktion nicht allzu drastisch?
Man hört immer wieder von Salafisten, dass sie es ganz stark finden, von ihren Mitmenschen, den "Ungläubigen", verachtet zu werden. Sie wollen sich als "Krieger Gottes" fühlen. Dabei genießen sie die Missachtung, die ihnen entgegenschlägt. So haben wir diese Szene gesehen, die für Julia eine spürbar große Belastung ist. Man sieht, wie schwer sie unter der Verschleierung atmet. In der Rolle der Julia hat mich Mala Emde einmal mehr begeistert. Nach "Meine Tochter Anne Frank" hatte ich große Lust, einen weiteren Film mit ihr zu drehen. Obwohl sie erst im Herbst mit ihrer Schauspielausbildung beginnt, spielt sie jetzt schon solche Riesenrollen. Das ist ein großes Versprechen, aber auch eine Herausforderung für sie.
Ihr Krimi erzählt auch einen klassischen Whodunit-Mordfall – viel Stoff für 90 Minuten.
Um die beiden Stränge miteinander zu verbinden, haben wir die Szenen bewusst klein gehalten und sie im Schnitt eingedampft. Der Zuschauer ist über die faktischen Abläufe auch dann im Bilde, wenn wir nicht alles breit auserzählen. So vermeidet man auch die sonst üblichen Redundanzen. Wir sind immer direkt in die Szenen eingestiegen, um die Substanz zu erzählen. Gutes Schauspiel, gute Kamera – den Rest haben wir uns gespart. Die Bilder unseres fantastischen Kameramanns Kirsamer prägen die Story in jeder Sekunde.
Was hat Borowski, was andere "Tatort“-Kommissare nicht haben?
Er ist scheinbar ein zurückhaltender Mensch. Ein bisschen Old School. Gleichzeitig hilft ihm seine unaufdringliche Art, tief in fremde Milieus einzutauchen. Das finde ich an ihm sehr stark. Und Borowski ist ein handelnder Mensch in dem Sinne, dass ihn die Fälle berühren und er sich kümmert. In einer Szene erzählt der Kommissar dem Mädchen eine wahre Geschichte. Im Irak wird eine Mutter von drei Kindern von einem IS-Anführer immer wieder vergewaltigt. Er zwingt sie, aus dem Koran vorzulesen, aber sie spricht kein arabisch. Um sie zu bestrafen, steckt er ihr jüngstes Kind in eine Blechbüchse und stellt es in die Sonne. Nach sieben Tagen holt er das Kind heraus und schlägt es tot. Axel Milberg hat diese Geschichte mit eingebracht. Er interessierte sich stark für das ganze Thema und setzte sich genauso wie Sibel Kekilli intensiv mit der Geschichte auseinander.
Kommt seine Kollegin Sarah Brandt zum ersten Mal etwas aus sich heraus?
Brandt zeigt in unserer Folge eine zarte emotionale Regung, als sie Julia von ihrer Kindheit erzählt, in der sie es auch nicht leicht hatte. Ich finde, die Figur sollte sich noch stärker öffnen. Sibel Kekilli besitzt die große Qualität, die Zuschauer emotional mitzureißen. Ihre Figur wirkt im ersten Moment sehr forsch. Dann setzt sie diesen analytisch-scharfen und sarkastischen Blick auf, der mir in unseren Großaufnahmen sehr gut gefällt. Manchmal verhält sie sich auch Borowski gegenüber spöttisch, der ihre Spitzen stoisch erträgt. Dass sie sich nicht zanken, finde ich klasse.
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