Zum Drehbuch: Katja Wenzel und Stefan Kolditz im Gespräch
Wieso haben Sie sich bei dem Auftaktfilm für das neue Ermittlerduo ausgerechnet für diesen politischen (Spreng-)Stoff entschieden?
Katja Wenzel: Weil wir einen Krimi erzählen möchten, der die Zuschauer*innen unterhält und zugleich aufwühlt – ohne sie zu bevormunden. Die Themenfindung selbst war ein intensiver Prozess, wobei mich die Themen 'Struktureller und Institutioneller Rassismus' sowie 'Neue Rechte' schon seit Ende der 1990er beschäftigen. Der unaufgeklärte Tod von Oury Jalloh 2005 in einer Dessauer Zelle und mein Entsetzen, dass in einem "Rechtssystem" so etwas möglich ist, war damals zusätzlich ein Katalysator. Stefan hatte den Fall ja schon 2015 in dem Tatort "Verbrannt" thematisiert.
Stefan Kolditz: Wobei "Verbrannt" mit den Tätern aus einer Polizeieinheit endet.
Katja Wenzel: Die reale Vertuschung des Mordes an Oury Jalloh ging und geht ja viel tiefer, in unser Rechtssystem hinein. Bis heute. Erst auf Druck einer zivilgesellschaftlichen Initiative wurde überhaupt reagiert! Es gibt demnach Menschen, die sich nicht sicher sein können, dass sie in Deutschland ausreichend geschützt werden; dass unterteilt wird in "Wir und "die 'Anderen'. Weitere Opfer von Angriffen in ostdeutschen Städten wie Hoyerswerder oder Rostock Lichtenhagen und den westdeutschen Städten Mölln oder Solingen über den NSU-Skandal, Hanau bis hin zum "Neukölln-Komplex" haben gezeigt, dass wir es keineswegs mit Einzelfällen zu tun haben. Und, dass nicht nur die Exekutive problematisiert werden darf.
"Nichts als die Wahrheit" erzählt von der rechten Unterwanderung unserer Gesellschaft in den unterschiedlichsten Bereichen.
Katja Wenzel: Das lässt sich Europa weit beobachten. Rechte, nationalistische und patriarchale Tendenzen erstarken wieder. Ob in Italien, Frankreich, der Türkei, Ungarn, Polen ...
Welche Herausforderungen oder "Schwierigkeiten" gab es beim Aufbau des Stoffes?
Katja Wenzel: Zunächst war es schwierig, einen so komplexen Stoff auf eine spannende Geschichte herunterzubrechen und für das neu zu etablierende Ermittlerteam einen starken Auftakt zu schreiben.
Stefan Kolditz: Ein drängender Stoff und zwei sehr unterschiedliche Charaktere - Karow, ein erfahrener, leicht zynischer Praktiker und Bonard, eine langjährige idealistische Theoretikerin – die durch ihn am Ende zu einer Einheit werden. Das Thema in ein spannendes, emotionales Narrativ zu überführen. Ohne dass das eine das andere kannibalisiert.
Katja Wenzel: Es hätte ein Tatort werden können, der nur einen Whodunit erzählt.
Stefan Kolditz: Er beginnt zwar klassisch mit einem Mord an einer Polizistin, die den Code of Silence gebrochen hat. Eine spannende Tatortkonstellation, die der Zuschauer erwartet. Zurecht. Mit "Nichts als die Wahrheit" wollten wir beide dann aber einen Schritt weiter gehen, ein Doppeltatort mit Politthrillermomenten.
Katja Wenzel: Wir hätten uns damit begnügen können, zu erzählen, was ja mittlerweile fast täglich in den Medien ist: rechte Chats in der Polizei, Racial Profiling, Code of Silence. Nur das ist immer nur die Exekutive - die Polizei. Und davon kann 'man' sich leicht distanzieren.
Stefan Kolditz: Zumal die meisten Polizist*innen versuchen, einen guten Job zu machen, und es viele Stimmen auch innerhalb der Polizei wie die z.B. von Oliver von Dobrowolski gibt, die sich für eine Bewusstmachung von diskriminierenden Denkmustern engagieren. Auch ich begreife immer mehr, dass ich nicht frei von Rassismen und Vorurteilen bin.
Katja Wenzel: Ja, die Einsicht ist nicht einfach. Und gleichzeitig ist es leicht aus dem sicheren Wohnzimmer heraus, schnelle Urteile zu fällen. Es geht darum, den täglichen Druck von Polizist*innen ernst zu nehmen, aber auch diskriminierendes Fehlverhalten zu thematisieren und mit juristischen Mitteln konsequent zu verfolgen. Und das geht über die Executive hinaus. So wie in unserem Tatort.
Stefan Kolditz: Daher macht er wieder und wieder eine Umdrehung mehr.
Katja Wenzel: Ein Karussell, das sich immer schneller dreht. Nach und nach entdecken Susanne Bonard und Robert Karow ein Netzwerk aus Exekutive, Legislative und Judikative, also Polizisten, Rechtsprechung, Staatsanwälte und Richter, das einen schleichenden Umbau der Demokratie anstrebt.
Stefan Kolditz: Und dennoch sind diese Figuren vielschichtig, nicht so einfach als 'rechtsradikal' abzutun. Das ist ja die Crux.
Wie sind Sie in Ihren Recherchen vorgegangen?
Katja Wenzel: Es gab eine intensive breitgefächerte Recherche von mir z.B. über rechtsradikale Chats (was emotional durchaus herausfordernd war), die Neue Rechte, Feindeslisten, Strafvereitelungen, Geldwäsche, Immobilien- und Waffenhandel. Zudem hatten wir mit Peter Kreysler einen investigativen Journalisten, der unsere Recherchen und Ansätze mit seiner Expertise immer wieder bestätigt hat. Kreysler hatte selbst beim Geheimdienst, im Militär- und Polizeisektor sowie bei der Justiz zum Thema der rechten Unterwanderung intensiv recherchiert. Zu erwähnen ist auch unsere enge sehr gute Zusammenarbeit mit der Redaktion, unserem Regisseur Robert Thalheim und der Produktionsfirma MadeFor Film.
Sie schildern fiktionale Ereignisse, die Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Demokratie und vielleicht sogar auf das generelle Verständnis von Demokratie haben könnten?
Katja Wenzel: Demokratie ist nichts Selbstverständliches.
Stefan Kolditz: Die wirkliche Gefahr für unsere Gesellschaft ist nicht, dass eine kleine radikalisierte Gruppe einen Staatsstreich ausführen will, nicht mal, dass eine größere Gruppe Reichsbürger sich aufrüstet. Was ist, wenn die Demokratie nicht von außen angegriffen wird, sondern von innen? Schon seit langem Schritt für Schritt, fast unsichtbar und vor allem 'demokratisch'. Wenn die, die uns schützen sollen, die sind, die sie zerstören wollen?
Katja Wenzel: So muss inzwischen sogar der Bundesvorstand der CDU dem Ex-Verfassungsschutzpräsident rechtsradikale Äußerungen attestieren. Und eine der führenden Drahtzieherinnen des versuchten Reichsbürger-Staatsstreichs war als Richterin am Berliner Landgericht tätig. Das sind nur zwei aktuelle Beispiele. Vorurteile und rassistisches Denken sind generell noch zu fest verankert. In unserer Mitte. Nicht irgendwo am 'rechten Rand'. Solange man nicht selbst anfängt, eigene Denkmuster und 'blinde' Flecken tiefgreifend zu hinterfragen, ist meines Erachtens die Demokratie immer gefährdet. Auch unsere Kulturlandschaft. Denn beide leben von einer heterogenen Gesellschaft. Wenn Menschen diese aber aus eigenen (privilegierten) Machtinteressen ablehnen, wird es problematisch. Und wenn sie versuchen, berechtigte soziale Ängste gegeneinander auszuspielen. Einfache Lösungen enden erfahrungsgemäß mit Angriffen auf Menschen, die willkürlich zu 'Anderen' gemacht werden. Da geht es nicht mehr um 'Meinungen'. Das ist alles andere als demokratisch.
Stefan Kolditz: Auch wenn die Zuspitzung unserer Geschichte Fiktion ist – zu glauben, dass etwas unmöglich ist, macht es nicht unmöglich.
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