Gespräch mit den Autoren Eva Zahn und Volker A. Zahn

Tatort Kiel – Borowski und die Kinder von Gaarden: Kommissar Borowski (Axel Milberg) befragt die Gang (Samy Abdel Fattah, Jeffrey Tormekpey, Zoran Pingel, Mert Dincer).
Bei den Ermittlungen taucht eine Video-Szene auf, in der Steinhaus von den Kindern getreten und verlacht wird. Borowski stellt die Jungs zur Rede. | Bild: NDR / Christine Schroeder

»Wir haben uns von einem realen Fall inspirieren lassen.«

Sie sind von Haus aus Journalisten. Journalisten müssen mit dem arbeiten, was sie haben. Geschichtenerzähler sind da freier. Was sind Ihrer Erfahrung nach die Schwächen und Stärken der beiden Bereiche?

Eva Zahn: Am Anfang steht die Recherche. Sobald wir aber genug über ein Thema wissen, können wir uns von der Realität lösen und die Geschichte erzählen, die wir am spannendsten finden. Ich genieße es sehr, ohne den Objektivitätszwang zu erzählen, dem Journalisten unterworfen sind – oder unterworfen sein sollten.

Volker A. Zahn: Unser journalistischer Hintergrund macht sich vor allem bei der Recherche bezahlt. Wir wissen, wo wir Informationen bekommen, und wir können mittlerweile auf einen großen Pool von Informanten und Fachleuten zurückgreifen. Wenn ich einen Polizisten als Journalist befrage, verweist er mich an die Pressestelle, wenn ich ihn als Drehbuchautor befrage, ist er oft froh, mir etwas über seinen Job und seine Erfahrungen erzählen zu können. Unsere Kontaktleute wissen: Wir sind nicht an Namen oder Interna interessiert, sondern an der Wahrheit, so wie wir auch in unseren Geschichten wahrhaftig sein wollen, ganz gleich, wie fiktional oder ausgedacht unsere Plots oder Figuren sind.

Wie haben Sie die Idee für den Stoff gefunden?

Volker A. Zahn: Wir wollten für den Borowski-"Tatort" unbedingt eine Geschichte erzählen, die etwas mit Kiel zu tun hat. Und wer sich mit dieser Stadt und ihren Problemen beschäftigt, stößt zwangsläufig auf die empörend hohen Zahlen zur Kinderarmut. In Kiel-Gaarden, wo unsere Geschichte spielt, leben rund sechzig Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Familien, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Eva Zahn: Wir wollten aber von Anfang an kein klassisches Sozialdrama erzählen, sondern auf spannende Weise illustrieren, wie sich Kinderarmut in einem scheinbar wohlhabenden Land wie Deutschland manifestiert. Es geht ja in erster Linie nicht um einen Mangel an Essen oder Spielsachen, sondern um eklatante Vernachlässigung und Unterversorgung: emotional, sozial oder gesundheitlich.

Wie haben Sie Kinderarmut recherchiert und in eine Geschichte geformt?

Eva Zahn: Was den Krimiplot angeht, haben wir uns von einem realen Fall inspirieren lassen. In einem Berliner Problembezirk gab es vor ein paar Jahren einen ähnlichen "Jugendtreff" in der Wohnung eines vorbestraften Pädophilen. Kinder und Jugendliche haben sich da täglich getroffen, Pornos geguckt, Alkohol getrunken, abgehangen, rumgealbert ... Keiner der Jungs hatte Angst vor dem Kinderschänder, aber irgendwann hat er sich ausgerechnet an dem stillsten und sensibelsten Teenager vergangen. Aus Rache und Verzweiflung hat der Junge ihn daraufhin umgebracht. Eine tragische Geschichte, die uns nachhaltig berührt und beschäftigt hat.

Volker A. Zahn: Obwohl wir uns in einem Ermittler-Krimi bewegen, wollten wir möglichst nah an den Kindern erzählen. Wie verbringen sie ihre Zeit, was fasziniert sie, wovon träumen sie, wie managen sie den Zustand der permanenten Vernachlässigung ... Leon versucht, den Hund zu beschützen und für ihn da zu sein – etwas, was niemand für ihn macht. Das erinnert sehr daran, dass Menschen eher dazu neigen, sich für Hunde einzusetzen als für Kinder.

Eva Zahn: Wenn man sich vor Augen führt, wie hierzulande Haustiere gepampert und vermenschlicht werden oder dass man für Hundefutter nur sieben Prozent Mehrwertsteuer zahlt und für Babynahrung 19 Prozent ... dann deutet das zumindest auf ein gesellschaftliches Klima hin, in dem Tieren mitunter mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge geschenkt wird als Kindern – vor allem, wenn sie aus prekären Verhältnissen kommen.

Ebenfalls ziemlich bitter ist, dass der Hund der einzige ist, der auf den Gedanken kommt, aus Kiel-Gaarden abzuhauen.

Volker A. Zahn: Anders als die Kinder kann er eben einfach weglaufen. Die Sehnsucht, aus Gaarden abzuhauen, wird in unserer Geschichte durch Timo verkörpert, er muss schon früh Verantwortung für seinen verstörten kleinen Bruder übernehmen und träumt davon, sich ein ganz normales Leben jenseits der Gaardener Tristesse aufzubauen. Aber Gaarden ist wie ein Stigma. Wenn du von hier kommst, musst du dich doppelt oder dreifach anstrengen – wenn man dich lässt: Es ist kein Geheimnis, dass Bewerbungsschreiben mit dem Absender Kiel-Gaarden oft ungelesen im Papierkorb verschwinden. Trotzdem: Wir wollten am Beispiel der Figur Timo einen Funken Hoffnung in diese perspektivische Düsternis bringen.

Timo ist intelligent und verblüfft Borowski mit tiefgreifenden Gedanken.

Volker A. Zahn: Das war uns wichtig: Zu zeigen, dass auch Kinder, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, was drauf haben können, dass da sehr viel Potenzial ist und dass bei entsprechender Förderung und Bildung alles möglich ist.

Eva Zahn: Wir wollen aber auch ein Gefühl dafür vermitteln, wie schnell Opfer in Täter umgewidmet werden – und wie rasant sich der Blick auf schwierige Kinder von einer mitleidigen Betrachtung in Vorwürfe und Anklagen verkehrt. Wenn ein Kind vernachlässigt wird, ist die Empörung groß. Aber sobald das Kind in die Pubertät kommt und Schwierigkeiten macht oder unbequem wird, wird seine Vorgeschichte ausgeblendet, und es heißt: "Sperrt ihn ein!" Die Zustände und Verhältnisse, die ihn dahin gebracht haben, spielen dann meistens keine Rolle mehr.

Thorsten "Rauschi" Rausch ist eine Pflanze des Milieus. Er ist mit den Menschen in seinem Kiez sehr eng. Manchmal enger, als es sein dürfte. Inwieweit findet man dies auch in der Realität?

Eva Zahn: "Rauschi" erscheint zuerst wie eine Kunstfigur, wie ein Sheriff in einer Westernstadt. Erst nach und nach erfährt der Zuschauer, dass sich hinter der coolen und etwas schillernden Fassade ein gebrochener Mann mit einem düsteren Geheimnis verbirgt, jemand, der sich langsam häutet und uns erst am Ende einen Blick in seine zutiefst verstörte Seele gewährt.

Sie durften Sarah Brandt eine Vergangenheit geben. Wie geht man da vor?

Volker A. Zahn: Das kann man nur in enger Absprache mit der Redaktion und natürlich mit Sibel Kekilli machen, da stellen wir uns als Autoren ganz in den Dienst des Formats. Schließlich müssen die Schauspielerin und andere Autorenkollegen nach unserem "Tatort" weiter damit leben.

Wie arbeiten Sie als Team? Sitzen Sie sich gegenüber und improvisieren Dialoge?

Eva Zahn: Wir sitzen über Eck ... (lacht)

Volker A. Zahn: ... und wir improvisieren nicht. Wir einigen uns auf ein Thema und entwerfen dann gemeinsam den Zugang zur Geschichte. Darüber und vor allem über unsere Figuren diskutieren wir dann in mehrstündigen Sessions – gerne beim Wandern – ausführlich, und wenn die Idee steht, wird sie aufgeschrieben. Und danach wird erneut diskutiert, frisiert, verbessert ... solange, bis wir zufrieden sind. So geht das auch bei den nachfolgenden Arbeitsschritten: schreiben, diskutieren, umschreiben, diskutieren.

Eva Zahn:
Und übrigens, wir sind keine Geschlechter-Experten. Ich kann Männer, und Volker kann Frauen!

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