Endstation Klinik? Pflegeheime nehmen Patienten nicht auf
Beraterinnen in Pflegestützpunkten, Heimleiter und Pflegewissenschaftler sprechen nach Recherchen von REPORT MAINZ von Triage in der Pflege. So haben sechs Beraterinnen von Pflegestützpunkten aus ganz Rheinland-Pfalz einen schriftlichen Hilferuf an die Politik verfasst.
Eine der Autorinnen sagte gegenüber REPORT MAINZ: Man spreche von Pflege-Triage, weil ambulante Pflegedienste und Heime oftmals wenig pflegeaufwändige Patienten auswählen, um ihr Personal zu entlasten. Daher würden Menschen mit schwerer Pflegebedürftigkeit immer häufiger durchs Raster fallen.
Die Konsequenz: Obwohl keine medizinische Notwendigkeit mehr besteht, belegen viele ältere Patienten bundesweit Betten in Krankenhäusern. Für sie kann oftmals nicht rechtzeitig eine Anschluss-Versorgung, zum Beispiel in einem Pflegeheim, gefunden werden.
Text des Beitrags:
Mandy Klingsporn ist Sozialdienstmitarbeiterin in einem Hamburger Krankenhaus. Sie muss sich um die Entlassung von Patienten zum Beispiel in Pflegeheime kümmern.
Mandy Klingsporn, Agaplesion Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf
„Sie haben keine Kapazität. Ok. Danke für die Info“.
Solche Absagen häufen sich. Wie bei diesem 64-jährigen Patienten. Er ist nach überstandener Lungenentzündung eigentlich ein Fall fürs Pflegeheim und gehört nicht mehr ins Krankenhaus. Er war mal Alkoholiker.
Mandy Klingsporn, Agaplesion Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf
„Trotz größter Anstrengungen konnten wir diesen Patienten leider nirgends unterbringen. Wir haben 170 Heime angefragt. Angehörige gab es leider nicht. Wir haben von den Pflegeheimen nur Absagen bekommen.“
Insgesamt 30 solcher Patienten hat Mandy Klingsporn momentan auf ihrer so genannten „Langliegerliste“ schwer vermittelbarer Patienten.
Wir haben über 1.600 Krankenhäuser in Deutschland in einer nicht-repräsentativen Umfrage zu diesem Problem befragt. Insgesamt antworteten bislang 330 Kliniken. Fast 88 Prozent davon bestätigten: Patienten mussten in den vergangenen 12 Monaten länger als zehn Tage über die medizinische Notwendigkeit hinaus in Krankenhäusern bleiben, ohne zum Beispiel in Pflegeheime vermittelt werden zu können.
Heime nehmen schwierige Krankenhauspatienten nicht auf
Warum nehmen viele Heime schwierige Krankenhauspatienten nicht auf? Wir sind in der Pro Seniore Einrichtung in Cochem an der Mosel.
Residenzdirektorin Margarete Vehrs hätte zwar viel Platz für weitere Bewohner.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Ja, das sind unsere schönen Zimmer, die zur Zeit leer stehen“
Ihr fehlt aber das Personal, um diese Bewohner zu versorgen. Darüber hatte REPORT MAINZ bereits im März berichtet.
Frage:
Was würde denn passieren, wenn sie weitere Bewohner aufnehmen würden?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Die Mitarbeiter wären überfordert und würden kündigen. Ich muss schon ein gutes Gleichgewicht finden, damit die Mitarbeiter nicht überlastet sind, aber auch die Bewohner gut versorgt sind.“
In der Nacht ist eine Bewohnerin verstorben. Das heißt: Es gibt jetzt wieder einen freien Pflegeheimplatz. Und den wollen viele. Margarete Vehrs hat an diesem Morgen 11 Anfragen von Krankenhäusern aus Nah und Fern. Aufgrund des Personalmangels hat sie mittlerweile ganz klare Auswahlkriterien.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Ich schaue, welcher Bewohner am wenigsten aufwändig ist, max Pflegegrad 2 – schwierige Bewohner oder Pflegegrad 4 momentan keine Aufnahme.“
Frage:
D. h. also es ist eine knallharte Auswahl, wen sie nehmen und wen sie nicht nehmen?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Ja, natürlich.“
Und am Ende fällt ihr die Entscheidung ganz leicht.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Ich hab jetzt jemanden gefunden, der bekommt heute die Zusage und die darf auch kommen.“
Frage:
Und das ist kein aufwändiger Fall?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Kein aufwändiger Fall. Pflegegrad 2, ist noch orientiert. Kann noch vieles selbst und selbständig durchführen. Das sind die Bewohner, die unsere Mitarbeiter gerne haben.“
Eine Gewissensentscheidung, weil bedürftigere Patienten auf der Strecke bleiben.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Wir haben nie aussortieren müssen, welcher Bewohner oder Patient aufgenommen wird oder nicht. Das ist schon sehr, sehr traurig. Und es macht mich auch traurig, weil diese Bewohner fast keine Chance mehr haben, irgendwo in einem Heim unterzukommen.“
Frage:
Würden Sie da von Pflege-Triage reden?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin Pro Seniore Cochem
„Das ist eine gute Frage. Das ist knallhart ausgedrückt. Aber es kommt dem nicht wenig nah.“
Triage heißt Auswahl oder Sichtung. Immer dann, wenn in Krisenzeiten für zu viele Patienten zu wenig Ressourcen vorhanden sind, wird Triage angewendet. Und anders als im normalen Alltag wird nicht zuerst dem Patienten geholfen, dem es am schlechtesten geht.
Altersforscherin: „Das ist auf jeden Fall eine Pflege-Triage“
Die Bochumer Altersforscherin, Tanja Segmüller, hat sich intensiv mit Triage in der Pflege beschäftigt.
Prof. Tanja Segmüller, Hochschule für Gesundheit Bochum
„Das ist auf jeden Fall eine Pflege-Triage, weil die Menschen, die den geringsten Pflegebedarf haben, die größte Chance haben, in einem Heim einen Platz zu bekommen und die, die am dringendsten Pflege bräuchten, die schwerst Pflegebedürftigen, die bleiben auf der Strecke in der Klinik. „
Bundesgesundheitsminister Lauterbach äußert sich auf Anfrage von REPORT MAINZ zum Thema Pflege-Triage nicht.
Hilferuf von Mitarbeiterinnen aus Pflegestützpunkten
Monika Kunisch dagegen werde in ihrer täglichen Arbeit damit konfrontiert, erzählt sie uns. Sie arbeitet im Pflegestützpunkt in Ludwigshafen und berät Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Zusammen mit fünf Kolleginnen aus ganz Rheinland-Pfalz hat sie einen Hilferuf an die Politik adressiert.
Monika Kunisch, Beraterin Pflegestützpunkt Ludwigshafen
„Wir sprechen von Pflege-Triage, weil einfach die Dienste und Einrichtungen auswählen. Die wählen aus, um ihr Personal zu entlasten, um ihre Einrichtung zu schützen und da fallen Menschen mit schwerer Pflegebedürftigkeit immer häufiger durchs Raster.“
Reaktion der Politik
Das Papier der Beraterinnen liegt mittlerweile dem rheinland-pfälzischen Sozialminister Alexander Schweitzer vor.
Frage:
Ist das aus ihrer Sicht Pflege-Triage?
Alexander Schweitzer, SPD, Sozialminister Rheinland-Pfalz
„Ich würde dieses Wort nicht benutzen. Weil ich einfach nicht sehe, dass wir, mit Blick auf die tatsächliche Situation insgesamt schon in der Situation sind.
Aber das Thema Fachkräfte drückt da natürlich und das Thema Fachkräfte ist der Grund, warum Pflegeeinrichtungen sagen, wir müssen schauen, wen wir aufnehmen können und können wir noch jemanden aufnehmen.“
Wir treffen den Präsidenten des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, bpa, Bernd Meurer, in München. Heime und ambulante Dienste seien längst über ihrer Kapazitätsgrenze, sagt er.
Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienst e.V.
„Wenn Pflegeheime Patienten aus den Krankenhäusern nicht aufnehmen können, weil ihnen das Personal fehlt. Wenn ambulante Dienste verzweifelte Hilferufe aus dem häuslichen Bereich von Familien einfach nicht anhören können und nicht abhelfen können, dann kann ich verstehen, dass man hier auch das Gefühl hat, es gibt eine Triage.“
Auswirkungen auf Notaufnahmen der Krankenhäuser
Und in der Klinik in Hamburg-Bergedorf gibt es ein weiteres Problem. Zehn Prozent der 300 Krankenhausbetten seien hier bereits mit kaum vermittelbaren Langliegern blockiert. Das habe fatale Auswirkungen, sagt Krankenhaussprecher Matthias Gerwien.
Matthias Gerwien, Agaplesion Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf
„Um ihre Notaufnahme ordnungsgemäß betreiben zu können, brauchen sie eine gewisse Anzahl freier Betten im Haus, weil sie ja nie wissen können, welcher Patient kommt rein und benötigt eine stationäre Aufnahme. Und wenn sie dann bis zu zehn Prozent ihrer Betten nicht frei bekommen können, weil die Patienten nicht wegvermittelt werden können, dann haben wir da ein Riesenproblem. Wir müssen in solchen Situationen die Notaufnahme vorübergehend schließen.“
Frage:
Wie oft ist das im letzten Jahr passiert?
Matthias Gerwien, Agaplesion Bethesda Krankenhaus Hamburg-Bergedorf
“Da hab ich keine Zahl direkt vorliegen, aber das kommt schon monatlich vor.“
Monatliche Schließungen der Notaufnahme, Patienten, die ohne medizinische Notwendigkeit im Krankenhaus bleiben müssen. Pflegeheime, die nur leichte Fälle aufnehmen. Beraterinnen von Pflegestützpunkten, die von Pflege-Triage sprechen.
Bernd Meurer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienst e.V.
„Das ganze System wird immer schwächer. Hier ist einfach jetzt die Zeit, dass man in einer konzertierten Aktion anfasst und nicht nur politische Erklärungen abgibt, nicht nur Modelle macht, sondern wirklich die Ursachen ermittelt und in Form einer Schnellhilfe einfach eingreift, bevor das Schiff hier noch absäuft.“
Alexander Schweitzer, SPD, Sozialminister Rheinland-Pfalz
„Also ich glaube, es gibt nicht die kurzfristige Lösung, das ist eine Illusion zu glauben, man legt einen Schalter um, und alles wird gut. Was wir machen in Rheinland-Pfalz ist eine Fachkräfteinitiative. Wir wollen Ausbildungskapazitäten hochfahren. Wir werden sicherlich auch über Arbeitsbedingungen sprechen müssen.“
Darüber wird schon seit Jahren geredet. Schnell werden diese Maßnahmen nicht wirken. In der Hamburg-Bergedorfer Klinik werden Betten oftmals nur wieder frei, wenn „Langlieger“ sterben. Wie in diesem Fall vor wenigen Wochen. Dieser Patient war bis zu seinem Tod nicht in ein Pflegeheim vermittelbar. Das Krankenhaus zählte 250 vergebliche Anfragen.
Stand: 15.10.2024 20:29 Uhr