So., 02.06.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Kambodscha: Geschichtsaufarbeitung im Reality-TV
"It's not a dream" – Es ist kein Traum, so heißt die Fernsehsendung, die dem Publikum das dunkelste Kapitel der kambodschanischen Geschichte nahebringt. Sie sucht Familienmitglieder, die in den 1970er-Jahren vom Terrorregime unter Pol Pot getrennt wurden, und bringt sie dann vor laufender Kamera wieder zusammen.
Großes Wiedersehen vor Fernsehkameras
Einmal im Monat gibt es seit zehn Jahren das große Wiedersehen vor Fernsehkameras. Fall Nummer 92 dieser Show ist gerade auf dem Weg hinter die Bühne: Neak Run. Noch weiß sie nicht, dass ihre Mutter und ihre Schwester hier im Publikum sitzen. Als die heute 51-Jährige sieben Jahre alt war, wurden sie und ihre Familie auseinandergerissen, bei der Vertreibung aus Phnom Pen. Neak Run wuchs im Waisenhaus auf: "Ich habe meine Familie so lange vermisst. Es war hart. Diese Leere in meinem Leben. Heute hat das ein Ende. Ich weiß nichts Genaues, aber sie haben irgendjemanden aus meiner Familie für mich gefunden. Ich bin so aufgeregt."
TV-Produzentin Sokhayuk Prak ist seit den Anfängen der Show dabei. Sie ist 37 Jahre alt und damit wie die meisten im Produktions-Team erst nach dem Ende des Roten-Khmer-Regimes geboren. Aber, so erzählt sie: So gut wie jede Familie in Kambodscha ist irgendwie betroffen, auch ihre eigene. "Warum siehst Du Dir meine Show nicht mal an, habe ich meine Mutter mal gefragt. Zu schmerzhaft, hat sie geantwortet. Meine Mutter hat als Einzige in ihrer Familie überlebt. Alle anderen sind umgebracht worden oder verhungert. Die Show würde all diese Erinnerungen wieder wachrufen."
Brutales Regime vertrieb und mordete
Rückblick: Das Rote-Khmer-Regime kommt 1975 an die Macht. Sie ermorden Millionen Menschen. Und sie vertreiben die Bevölkerung aus den Städten. Die Menschen sollen auf dem Land in kommunistischen Kommunen leben. Innerhalb von Tagen wird die Hauptstadt Phnom Pen zur Geisterstadt.
Ein Herz und eine Seele. Das ist Fall Nummer 65: Soung Yorn und ihre Tochter You waren mehr als 40 Jahre lang getrennt. Bevor sie sich vor mehr als zwei Jahren in der TV-Show wiedersahen. "Ich habe Dich so vermisst", schluchzt die Tochter. "Mein Leben ohne Dich war schrecklich." Soldaten hatten die damals fünfjährige You während der Roten-Khmer-Zeit einfach mitgenommen. Heute können sie beim Kochen Erinnerungen austauschen. "Ich habe immer noch die Berge vor Augen", sagt You. "Ja", so die Mutter, "da hatten uns die Roten Khmer zuletzt hingetrieben. Alles, was dort irgendwie essbar aussah, haben wir gekocht und gegessen. Manchmal mussten wir danach kotzen. Ein Soldat hat mich zu seinen Verwandten gebracht. Die haben mich wie der letzte Dreck behandelt. Ich musste von morgens bis abends für sie schuften und nie war es gut genug. Binde Dich nicht an einen Baum, der keine Wurzeln hat, haben sie mich immer wieder verhöhnt, weil ich keine Familie hatte. Das hat mich so tief verletzt. Mein Leben war furchtbar."
Die 48-jährige You möchte, dass ihre Mutter jetzt bald ganz bei ihr und ihrer Familie lebt. Die Besuche zum Mittagessen reichen nicht aus, um die verpassten Jahrzehnte wieder aufzuholen. "Was uns die Roten Khmer angetan haben, wird uns bis ans Lebensende verfolgen. Diese Grausamkeit. Wir haben wie Sklaven unter diesem System gelebt. Ich glaube, hätte das Regime noch ein paar Tage länger durchgehalten, wären wir alle draufgegangen", sagt die 76 Jahre alte Soung Yorn.
Jede Woche neue Fälle
Zurück beim TV-Team: Jede Woche sind sie unterwegs auf den Dörfern, um neue Fälle zu recherchieren und zu drehen. In Kambodscha gibt es keine Melderegister, sagt Sokhayuk. Das macht die Suche schwierig. Und noch heute haben viele Kambodschaner Mühe zu begreifen, was die Roten Khmer und ihr Polizeistaat dem Land angetan haben. "Sie glaubten, dass ein starker Zusammenhalt eine Bedrohung für ihr Regime sein könnte. Deshalb haben sie einfach alle Familien getrennt. Die Menschen sollten in ihrem Schmerz gefangen sein und an nichts anderes mehr denken können als an ihre Familien und ans Essen. Sie haben eine ganze Gesellschaft zerstört. Die Roten Khmer glaubten, dass sie so ihre Macht sichern können", sagt Sokhayuk Prak.
Die Suche ist voller Unwegbarkeiten und dauert oft Monate. Das Produktionsteam dreht Aufrufe, die dann landesweit im Radio und Fernsehen ausgestrahlt werden. In der Hoffnung, dass sich jemand erinnert und meldet. "Bitte komm zurück, Mok Pouch, schluchzt Mok Roeun." Sie hat ihre Nichte verloren. "In meinem Leben gibt es nur Tränen, seitdem Du nicht mehr da bist", sagt sie.
Das Regime von Pol Pot hat zunächst vor allem gut Gebildete und ihre Kinder umgebracht. Um sich zu schützen, haben sich viele neue Namen gegeben und ihr Leben neu erfunden. Die Familien haben ihren Kindern damals einen komplett neuen Lebenslauf eingeschärft.
Jede neue Show: Geschichtsstunde für Kambodscha
Kurz vor der Show, die immer auch ein Stück Geschichtsstunde für Kambodscha ist: "Nicht immer weinen unsere Familien sagt", Sokhayuk Prak. "Manchmal starren sie sich auch einfach nur erst mal an und auch das ist völlig okay. Nach so langer Zeit gibt es manchmal gar keine Gefühle mehr für einander. Sie wissen, diese Person ist meine Mutter oder meine Schwester, weil man es ihnen sagt. Aber sie haben kaum noch Erinnerungen an sie. Sie müssen sich erst wieder kennenlernen und die Erinnerungslücken füllen."
Der große Moment für Neak Run und ihre Familie: ein Wiedersehen nach mehr als 40 Jahren. Hier braucht es keine Worte. Show und Geschichte – vereint in einem tränenreichen Happy End.
Autorin: Sandra Ratzow, ARD Studio Singapur
Stand: 03.06.2019 14:34 Uhr
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