So., 02.06.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Kasachstan: Die Jugend will freie Wahlen
"Ruhe bitte. Und Action!" – Filmaufnahmen für einen Internet-Clip: "Ein Land, in dem niemand an freie Wahlen glaubt. Ein Land, in dem man für den Ruf nach freien Wahlen 15 Tage Haft kriegt", heißt es dort. Dieser Film fürs Netz soll aufrütteln. Das Internet ist die Waffe der Aktivisten in Kasachstan. "Wir posten es überall, wo wir können." Angst haben sie keine: "Wir leben schon 30 Jahre mit Problemen. Es ist Zeit, sie zu lösen." Die Aktivisten eint der Wunsch nach echter Veränderung.
Kampf für freie Wahlen
Asja Tulesowa ist die Bekannteste. Im April beim Marathon in Almaty, Kasachstans größter Stadt: Asja hält mit einem Freund ein Plakat hoch. "Vor der Wahrheit kannst du nicht fliehen!" steht darauf. Und: "Für faire Wahlen!" Ein Gericht verurteilt sie im Blitzverfahren zu 15 Tagen Haft. Im Gerichtssaal machten ihr mehr als 100 Unterstützer Mut.
Gut einen Monat später. Asja Tulesowa am selben Ort: Sie würde es wieder tun, sagt sie: "Ich bin sehr stolz darauf. Wir wollten auf die Wahlen am 9. Juni aufmerksam machen. Wir müssen uns jetzt aktiver in den politischen Diskurs einbringen, unsere Meinungen als Bürger zeigen." Die Unterstützung für Asja Tulesowa ist groß – auch weil ihre Verhaftung kein Einzelfall ist. Rapper haben das in einem Song verarbeitet. "Diese absurde Verhaftung hat uns empört und in Rage gebracht", sagt Rapper Aidar Alimbajew.
Kritik an der Regierung ist gefährlich
Kritik an der Regierung ist in Kasachstan gefährlich. Doch in der Musik fällt ihnen das leichter. Asja hört den Song zum ersten Mal live: “Es ist eine hervorragende Komposition, sehr aktuell. Aidar hat mir das geschickt. Und seitdem höre ich es immer, wenn ich im Taxi unterwegs bin." Es ist Kasachstans erste Präsidentenwahl nach einem historischen Einschnitt: Nursultan Nasarbajew war der erste und einzige Präsident seit der Unabhängigkeit – fast 30 Jahre. Ein autoritärer Herrscher, der sich mit seinem Clan illegal bereichert hat. Im März trat er zurück und behält doch als Chef des Nationalen Sicherheitsrats weiter viele Strippen in der Hand.
Den Präsidenten gibt jetzt Qassym-Schomart Tokajew. Er ließ sofort die auf dem Reißbrett geplante Hauptstadt Astana umbenennen — in Nur-Sultan, der Vorname von Nasarbajew. Viele Gebäude in Nur-Sultan tragen ohnehin schon Nasarbajews Namen. Und mit der Wahl will Tokajew sich jetzt bestätigen lassen. Kein Kandidat ist so präsent wie Tokajew. Und von den anderen sechs Kandidaten unterstützen bis auf einen alle die Regierung.
Proteste vor allem über Social-Media-Kanäle
"Es gibt Proteststimmung in Kasachstan und sie nimmt zu. Aber sie hat keine legitimen politischen Kanäle, um den Druck aus dem Kessel zu lassen. Die Oppositionsparteien wurden aufgelöst. Und es gibt außerhalb des Internets keine oppositionellen Massenmedien", erklärt Politologe Dosym Satpajew. Doch Aufrufe auf Social-Media-Kanälen trieben im April und Mai mehrmals Hunderte Kasachen auf die Straße. Wut über die Umbenennung der Hauptstadt Astana in Nur-Sultan, oder die Enttäuschung, dass echte Veränderung in Kasachstan auch jetzt auszubleiben scheint. Der Staat reagiert mit Festnahmen. "Kasachstan ist ein autoritärer Staat. Die Arbeit der politischen Opposition wird sehr erschwert, wenn sie überhaupt möglich ist. Proteste und Aktivitäten der Bürger werden von der Staatsmacht kontrolliert und sofort unterbunden, wenn sie darin eine Bedrohung sieht", sagt Ewgenij Schoftis, Direktor des Büros für Menschenrechte und Rechtsstaat.
Auch Asja Tulesowa und die anderen Aktivisten wurden offenbar als Bedrohung gesehen. Sie besucht ihre Großmutter, die ihrer Enkelin die Worte ins Gefängnis schickte: "Halte durch!". "Wann immer es früher in Almaty Proteste gab, habe ich teilgenommen. Denn – wie man sagt – Proteste sind die Stimme des Volkes. Und der sollte man mindestens Gehör schenken", erklärt Großmutter Ilfa Jansugurova. "Die ganze Familie hat sich immer ehrenamtlich engagiert – von meinem Großvater bis zu meiner Tante", ergänzt Asja Tulesowa.
Die Freiheit der Kunst
Asja Tulesowa freut sich, dass auch die Schauspieler sich in der Kunst ihre Freiheit nehmen. Premiere eines Theaterstücks. Offiziell geht es um Krankenhaus-Patienten, aber in Wirklichkeit verarbeiten sie ihre Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, auch Asjas Banner-Aktion. Am Ende: Eine gefesselte Chefin und ein Song über einen korrupten Präsidenten. Wenn das keine Anspielungen sind. Noch bleiben sie vorsichtig: Vor der Wahl gibt es keine weitere Aufführung mehr.
Autor: Demian von Osten, ARD Studio Moskau
Stand: 02.06.2019 21:07 Uhr
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