So., 02.06.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
USA: Die dunkle Seite von Montana
Corbin war groß für sein Alter, gerade mal 13 Jahre alt und schon sehr stark. Er war ein erfolgreicher Sportler. Seine Schwester und seine Mutter kommen oft auf den Friedhof. Statt eines Grabsteins haben sie eine Bank aufgestellt. Vor drei Jahren hat Corbin sich das Leben genommen. "Ich komme jeden Tag hierher, um ihn zu sehen, wie früher, in Erinnerung an alte Zeiten. Ich hänge hier ab und mach irgendwas. Meine Hausaufgaben. Oder ich sitze einfach da und höre Musik. Etwas, um den Kopf frei zu bekommen", sagt Corbins Schwester Jerrel McKinsey.
Mutter Sharla Jerrel versucht, nach vorne zu schauen. Sie will hier am Grab Corbins Freunden einen Schutzraum bieten: "Es ist ein Ort, an dem sie sie selbst sein können, wo sie niemand beurteilt. Die Härte in Montana. Das ist schwierig. Hier ist man derb und widerstandsfähig, mit einer harten Schale, die sich nicht aufbrechen lässt. Wie bei einer blühenden Zwiebel, deren Schichten man nicht ablösen kann."
"Let's talk"-Club will informieren und Ängste thematisieren
Die Jerrels leben in Miles City. Hier sind sie stolz auf ihr Western-Image. Eine Kleinstadt in Montana. Aber alle 33 Stunden nimmt sich in diesem Bundesstaat ein Mensch das Leben. Der erste Rang in einer traurigen Statistik. Nachdem in kurzer Zeit mehrere Schüler in Miles City Suizid begingen, wollte ein Lehrer, Scott Rapson, an der örtlichen Highschool nicht länger untätig sein. Er gründete den "Let's talk"-Club.
Rapson ist überzeugt, dass Sprechen in dem dünn besiedelten, oft kalten und grauen Montana besonders wichtig ist: "Wenn Familien psychische Probleme als Schwäche sehen und den Kindern sagen: 'Wir sind härter als das. Sei stark, sei ein Cowboy.' Dann ist das sehr gefährlich. Ihnen fehlt das Verständnis, was psychische Gesundheit bedeutet, was es heißt, mit Depressionen zu kämpfen." Die Jugendlichen im "Let's Talk"-Club wollen ihre Mitschüler informieren, auch Ängste thematisieren. Betroffen sind Jungs wie Mädchen, aber vor allem junge Frauen engagieren sich. Warum nicht mehr junge Männer? "Wir hatten ein paar, aber sie kamen nur einmal. Vielleicht schämten sie sich, darüber zu reden", vermutet Victoria Hopkins.
Auch Corbin hat nicht geredet. Und die Eltern haben nicht nachgehakt. Sein Vater, David Jerrel, bereut heute, nicht mehr mit den Kindern gesprochen zu haben. Der Lkw-Fahrer ist viel unterwegs. McKinsey hat zur Erinnerung an ihren Bruder ein Tattoo entworfen. Es zeigt einen Angelhaken und ein Geweih. Das waren Corbins Hobbys. "Für mich ist das ein Rätsel. Ich weiß nicht, wie man das erkennen kann, wie man die Kinder dazu bekommt, offener darüber zu reden. Man muss ihnen zeigen, dass sie sich nicht schämen müssen, Hilfe zu suchen, wenn sie Hilfe brauchen, und dass sie dann mit jemandem sprechen", sagt David Jerrel.
Überall in Montana ist Suizid ein großes Problem
Dafür setzt sich auch Katlyn Gillen ein. Auch ihr Bruder hat sein Leben beendet. Nur sechs Monate später starb ihr Vater im Schlaf. Überall in Montana ist Suizid ein großes Problem. In Livingston, einer anderen Kleinstadt, fehlen – wie an vielen Orten – ausreichend Psychologen. Katlyn erzählt von monatelangen Wartezeiten, auch wegen der Kürzungen im Gesundheitswesen. Katlyn spricht ganz offen über ihre Verzweiflung: "An einem Abend war ich durch. Ich war erschöpft, allein, verzweifelt. Ich nahm Tabletten. Ich wollte zu meinem Vater und meinem Bruder. Das wussten bisher nur zwei Menschen, aber ich will, dass alle wissen, dass jeder mal einen schlechten Tag hat. Aber Gott ist noch nicht fertig mit uns. Ich kann jetzt wieder atmen und mir sagen, dass ich okay bin."
Selbstmord soll nicht länger ein Tabu sein
Die Gemeinde ist zu einer Art "Spaziergang der Hoffnung" zusammengekommen. So etwas gibt es jetzt überall in den USA. Eine Stiftung versucht, private und staatliche Vorbeugung zu koordinieren. Zwei Meilen durch ein Wohnviertel. Kaum jemand ist auf der Straße. Ob das etwas bewirkt? "Das ist eine Kleinstadt. Wenn hier was los ist, kriegt das jeder mit. Das hier ist sehr wichtig. Aber sie haben nicht viel Werbung für den Marsch gemacht. Hoffentlich ist es nur der Anfang, und es kommt noch viel mehr", sagt Katlyn Gillen.
Jedes Jahr singt Corbins Mutter die Nationalhymne beim Rodeo in Miles City. Hier wollen sich Jugendliche, wie ihr Sohn einer war, beweisen. Allen hier ist ihr Schicksal gegenwärtig. Suizid soll nicht länger ein Tabu sein. Auch dafür singt Sharla Jerrel.
Autorin: Claudia Buckenmaier, ARD Studio Washington
Stand: 03.06.2019 15:09 Uhr
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