So., 27.11.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Niederlande: Kokain-Mafia gegen den Staat
Der Journalist Peter de Vries galt in den Niederlanden als Held, als unerschrockener Kämpfer gegen organisierte Kriminalität. Als ihn Killer der Kokain-Mafia auf offener Straße töten, herrscht überall Trauer und Bestürzung. Inzwischen haben die Behörden eine Reihe von Verdächtigen ermittelt, in einem besonders gesicherten Gerichtssaal läuft ein Mammut-Verfahren gegen die Beschuldigten.
Sondereinheiten der spanischen Polizei im Einsatz in Barcelona. Festnahme eines Verdächtigen, der am Mord gegen de Vries beteiligt gewesen sein soll sein soll, die Tat erschüttert die Niederlande im letzten Jahr in ihren Grundfesten. Unter Hochsicherheitsmaßnahmen wird der Mann in die Niederlande überführt. Fast zeitgleich erfolgt in Curacao der Zugriff auf einen weiteren Verdächtigen. Ein Jahr nach dem Mord an de Vries erhoffen sich die niederländischen Behörden nun neue Erkenntnisse darüber, wer wirklich hinter der Tat steckt.
Rückblick: Sommer 2021. De Vries ist auf dem Weg zu seinem Auto. Dann fallen fünf Schüsse – de Vries wird auf offener Straße erschossen. Die mutmaßlichen Täter werden kurz nach der Tat gefasst. 100.000 Euro sollte der Schütze bekommen haben, 50.000 der Fahrer. Die Geschichte aber nimmt eine weitere Wendung: Als de Vries niedergeschossen wird tauchen zwei ähnlich gekleidete Personen auf. Es sind die beiden in Barcelona und Curacao festgenommenen.
Drogenmafia im Visier
Vito Shukrula ist Anwalt und verteidigt einen von ihnen. "Man sieht hier wie diese zwei Typen auf dem Bildschirm erscheinen. Und dieser hier rechts ist mein Klient. Die Polizei sagt, sie haben ihr Telefon genommen und dann hätten sie damit begonnen Peter R. de Vries zu filmen wie er auf dem Boden liegt. Und kurze Zeit später haben viele Menschen in Holland ein Video auf ihr Handy bekommen und auf diesem Video sehen sie Peter R. de Vries niedergeschossen auf dem Boden liegen. Die Polizei wundert sich darüber. Warum soll jemand so etwas filmen?"
Während Passanten versuchen de Vries zu helfen, machen die beiden die Aufnahmen und lachen dabei, wie Zeugen aussagen. Dann verlassen sie den Tatort. Der Verdacht: Hinter dem Video steckt jemand ganz anderes. "Seit mein Mandant verhaftet wurde, spricht er nicht mit der Polizei. Das ist üblich so, weil man der Polizei keine Antworten gibt. So läuft das, denn wenn du mit der Polizei redest, wirst entweder du oder deine Familie umgebracht oder dein Anwalt", sagt Shukrula. Er verteidigt häufig Angeklagte in Fällen, die mutmaßlich mit der Drogenmafia zu tun haben. Er glaubt die Drogenbosse wollen mit dem Video zeigen: Seht her, wir können hier machen was wir wollen. "Wer hat den Befehl gegeben. Wer ist der Oberboss sozusagen. Wer hat den Auftrag gegeben, den Journalisten zu töten, das ist was sie momentan wissen wollen. Und das ist am Ende des Tages die Frage, dass eine Person dahinter steckt und es ist die Frage, wer ist diese Person?"
Die Angst in der Bevölkerung der Niederlande wächst
Ist es Ridouan Taghi. Er sitzt ein im Hochsicherheitsgefängnis de Vught, ein Gefängnis in einem Gefängnis. Sogar von dort aus soll er weiter seine Befehle nach außen gegeben haben. Taghi gilt als Chef einer international agierenden Drogenmafia. Zusammen wurde er mit anderen angeklagt, wegen mehrerer Morde und Mordversuche. In einem der größten Prozesse in der Geschichte der Niederlande. Unter höchsten Sicherheitsbedingungen. Gegen Taghi sagt ein Kronzeuge aus. Dessen Anwalt Derk Wiersum wird 2019 auf offener Straße erschossen. Um diesen Kronzeugen einzuschüchtern.
Die Niederlande sind erschüttert über diesen Anschlag auf den Rechtstaat. Ein neues Team verteidigt und unterstützt den Kronzeugen. Dazu gehört auch der Journalist Peter R. de Vries - Und auch er wird wenig später zum Opfer. Die Prozesse um Anschläge und ihre Drahtzieher – sie werden immer größer. Die Angst in der Bevölkerung wächst: Der Mord am Journalisten, an einem Anwalt. Es gibt Morde an Unschuldigen, die zufällig am falschen Ort waren. Und nun wiederholt Drohungen gegen Ministerpräsident Mark Rutte. Jetzt ist auch Prinzessin Amalia in Gefahr: Behörden fürchten, sie könnte entführt werden, um womöglich führende Mafiabosse freizupressen.
Die Niederlande stehen vor der Frage: Wer bestimmt eigentlich die Regeln: der Rechtstaat oder die Drogenmafia? "Um ehrlich zu sein, habe ich lange überlegt ob ich den Fall übernehme. Ich musste einige Tage darüber nachdenken. Es kann Konsequenzen haben für deine Sicherheit. Es ist eine Menge Druck in dem Fall. Ich habe mich gefragt ob ich von Wert sein kann. Und ich habe nachgedacht und war einverstanden", erzählt Strafverteidiger Shukrula. Wer ihm den Auftrag gegeben hat, darüber möchte der Anwalt nicht sprechen.
Journalisten und Strafverteidiger arbeiten unter Polizeischutz
Das ganze Land – und natürlich die Mafia verfolgen den Prozess genau. Journalisten und Strafverteidiger arbeiten unter Polizeischutz, sie fürchten die Rache der Mafia. Während die Richter noch öffentlich auftreten, arbeiten viele Justizbeamte und Staatsanwälte teilweise anonym. Tauchen in Prozessakten unter einer Nummer auf. Anwalt Shukrula und seine Kollegen stehen im Fokus der Öffentlichkeit. Oberstaatsanwalt Greive kümmert sich um Staatsanwälte und deren Sicherheit. Und prüft zusammen mit der Polizei, wer, warum zumindest teilweise anonym bleiben kann. 40 Beamte sind es mittlerweile. "Wir sind in einer Situation, wo wir die Öffentlichkeit, die sehr sehr wichtig ist, in Teilen einschränken müssen für die Sicherheit unserer Beamten. Das stört mich sehr, das ist wie ein Kieselstein in meinem Schuh. Ich empfinde es als eine Delle in unserem Rechtstaat", sagt Greive.
Immerhin wissen alle Beteiligten im Gerichtsaal deshalb noch, mit wem sie es zu tun haben, so Greive. Und im Prozess sehen die Staatsanwälte den Angeklagten ins Gesicht. Auf den offiziellen Fernsehbildern aber tauchen sie nicht mehr auf. "Ich denke wir befinden uns an einem Wendepunkt. Wenn man sieht, dass dieser Prozess anonym wird, dass Leute sagen: 'Ich bin nicht bereit für das zu stehen was ich sage', weil diese Leute Angst haben, dass sie umgebracht werden könnte, dann ist das sehr gefährlich weil es bedeutet, dass du in gewisser Weise etwas der Unterwelt überlässt. Weil du sagst, ich bin nicht mehr bereits dafür einzustehen was ich sage", sagt Strafverteidiger Shukrula.
Um den Mann zu verteidigen, der mutmaßlich den um sein Leben kämpfenden Peter R. de Vries gefilmt hat, muss sich Vito Shukrula durch Tausende Seiten Prozessakten arbeiten. Ob und wie die Drahtzieher der vielen Morde verurteilt werden können, werden die nächsten Monate zeigen. Und auch die Frage bleibt offen, wer in der Niederlanden bestimmt: der Staat oder die Mafia.
Stand: 27.11.2022 20:13 Uhr
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