So., 18.09.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Spanien: Joghurt für die Seele
Halb sieben morgens. Ziemlich früh. Miriam Duran fährt auf Schicht. Der Bus hat schon an die 30 Leute eingesammelt. Manche leben zusammen im betreuten Wohnen, andere – wie Miriam – bei ihren Eltern. Lernen war nie so meins, sagt sie von sich. Aber die Frühschicht macht sie mit links: "Morgens gefällt mir besser als nachmittags. Nachmittags ist blöd! Morgens ist es noch schön kühl, und außerdem hast Du dann den ganzen Nachmittag frei."
Nicht allen fällt früh aufstehen so leicht. Ein paar sind noch im Halbschlaf. Jetzt geht es erstmal ein paar Kilometer durch den Wald. Die Fabrik, in der sie arbeiten, heißt "La Fageda" (katalanisch: Buchenhain). Mitten in einem Naturschutzgebiet gibt es 16 Hektar Werkshallen, Gemüsegärten und Kuhweiden.
Miriam Duran ist Maschinistin an der Etikettiermaschine. Ihr Kollege faltet Kartons. Jeder macht die Arbeit, die er machen kann. Miriam hat Ehrgeiz. "Man muss sich schon konzentrieren. Es gibt viel, worauf Du achten musst. Immer Etiketten-Papier nachfüllen zum Beispiel. Das muss alles sitzen, sonst werden die Kunden - naja…"
"La Fageda": Erfolgsprodukt Naturjoghurt
100.000 Millionen Naturjoghurts laufen hier jedes Jahr vom Band. In Katalonien und auf den Balearen sind sie der Renner. Das hier ist keine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, sondern eine Fabrik, die ein Erfolgsprodukt herstellt. Und doch sind ein paar Sachen anders. Dass Zuneigung so sichtbar ist, zum Beispiel. "Eigentlich sollten noch viel mehr Fabriken so sein. Weil es einfach eine gute Art ist, zu arbeiten. Wir sind alle Menschen, und wir brauchen alle mal eine Umarmung, Anerkennung, oder dass jemand einfach fragt: 'Wie geht es Dir?'", sagt Sozialpädagogin Teresa Carrillo.
Die Arbeit wird hier an die Menschen angepasst – nicht umgekehrt. Und so kommt es, dass einer einfach mal ein Päuschen mehr macht. Oder: einer arbeitet und zwei gucken zu. Und: Es wird viel zugehört. Miriam hat regelmäßig Gespräche. Geht es ihr gut, schafft sie die Arbeit, will sie sich vielleicht verändern? María Colón ist Psychologin. Ihr Vater hat La Fageda gegründet. Es frustrierte ihn, sagt sie, dass in psychiatrischen Einrichtungen immer nur Aschenbecher getöpfert wurden: "Arbeit muss irgendetwas herstellen, was die Menschen nützlich finden und was sie auch kaufen. Dabei ist es ganz egal, ob das ein Produkt oder eine Dienstleistung ist – es muss der Gesellschaft etwas bringen."
Menschen sind wichtiger als das Produkt
Auch wer depressiv ist oder Lernschwierigkeiten hat, merkt ziemlich genau, ob er etwas Nützliches produziert. Seit ein paar Jahren hat La Fageda Marmeladen im Sortiment. Auch die verkaufen sich prächtig – und das macht stolz. "Eines ist mal klar: Unsere sind die Besten! Wir machen sie mit viel Liebe, und das ist total wichtig!", sagt Jaime Sánchez. Für die Marmeladen gilt dasselbe wie für den Joghurt: Die Menschen sind wichtiger als das Produkt. Als die Nachfrage stieg, hätten sie Maschinen kaufen können, um die Produktion zu beschleunigen. Stattdessen wurden einfach mehr Töpfe angeschafft – und mehr Leute eingestellt.
Viel Handarbeit kostet viel. Der Preis für den Naturjoghurt liegt 30 Prozent über dem der Konkurrenz – und trotzdem ist er in Katalonien und auf den Balearen zum Marktführer geworden. Vielleicht ja deswegen, weil die Rohstofflieferanten gleich nebenan untergebracht sind. Von der Kuh bis in den Becher alles auf demselben Gelände, und das schon seit Jahrzehnten. Regional und nachhaltig, lange bevor regional und nachhaltig in Mode kam. Wer die Joghurts produziert - das wüssten die meisten Kunden aber wohl nicht. "Wir wollen, dass die Leute uns kaufen, weil wir gut sind und nicht, weil sie Mitleid haben. Wir konkurrieren in den Supermärkten schließlich mit großen multinationalen Konzernen", sagt Direktorin Silvia Domènech.
40 Jahren gibt es "La Fageda" bereits
Zwischendurch hat sich die Firma immer wieder neu erfinden müssen. Andere Produkte, mehr Marketing – am Markt bestehen ist nicht einfach. Aber das Wichtigste ist immer noch, dass so viele Menschen wie möglich hier arbeiten können. Miriam jedenfalls will keinen anderen Job machen. "Ich hab viel Spaß mit den Kollegen, wir verstehen uns gut, wir vertrauen uns. Ich hoffe, dass ich hier in Rente gehe. Außer, es läuft schlecht. Dann müsste ich woanders hin."
La Fageda gibt es aber schon seit 40 Jahren. Und Angst vor der Zukunft hat hier keiner. Wenn die Leute keinen Joghurt mehr wollen, machen wir halt Tomatensoße, sagen sie. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht noch 40 Jahre dranhängen könnten.
Autorin: Nathalia Bachmayer, ARD-Studio Madrid
Stand: 18.09.2022 19:00 Uhr
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