So., 19.06.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Selbsthilfe für den Wiederaufbau
Im Donbass und an vielen anderen Orten in der Ukraine gehen die brutalen Kämpfe weiter. Die russischen Truppen setzen schwere Artillerie ein, die Granaten und Raketen treffen nicht nur militärische Einrichtungen – viele Wohnhäuser in den Städten und Dörfern wurden seit Kriegsbeginn zerstört. Obwohl weiterhin verbissen gekämpft wird, machen sich viele Ukrainer schon wieder an den Aufbau.
Treffpunkt Kiewer Stadtzentrum: Sie sind Anfang, Mitte 20, haben Iso-Matten und Schlafsäcke dabei. Doch die Reisebusse werden sie nicht zu einem Festival bringen. "Die Tatsache, dass wir die Menschen, die alten Leute nicht alleine lassen, gibt mir ein sehr gutes Gefühl."; "Wir können alle die Nachrichten verfolgen. Aber es ist genauso wichtig selbst mit anzupacken."; "Nur auf unsere qualifizierten Handwerker können wir uns nicht verlassen. Einfach, weil es in der Ukraine nicht genug von ihnen gibt."
Sie fahren in den Norden der Ukraine, in die Region Tschernihiw. Hier haben russische Soldaten über Wochen Raketen abgeworfen, Dörfer besetzt und heftige Zerstörungen zurückgelassen – wie hier in Lukashivka. "Von meinem Haus ist ja praktisch nichts mehr übrig geblieben. Alles haben sie zerstört. Wie soll ich weiterleben? Den Zweiten Weltkrieg habe ich als Kind überlebt. Aber diese Faschisten jetzt? Die sind schlimmer als Hitler", sagt Dorfbewohnerin Alexandra Nesterenko. "Hier bei uns sind zwei Geschosse eingeschlagen. Und bei den Nachbarn noch mehr. Wer weiß wie viele. Drei dahinten – es sind so viele Geschosse geflogen. Alles ist zerstört."
250 junge Frauen und Männer im Freiwilligeneinsatz
Die Freiwilligen wollen ihnen das Gefühl vermitteln: Ihr seid nicht allein. 250 junge Frauen und Männer sind an diesem Wochenende nach Lukashivka gekommen, um dabei zu helfen, das zerstörte Dorf wieder aufzubauen. Dmytro Kyrpa ist einer der Organisatoren von "Repair Together": Bis zum Krieg war er IT-Spezialist. Dmytro hat in Passau studiert, spricht deshalb fließend Deutsch. Seine Arbeit jetzt empfindet er als sinnvollste Sache, die er je gemacht hat. "Du fühlst auch, dass Du nützlich bist, aber in der kapitalistischen Welt fühlst du das nicht so stark. Und hier: Es ist eine ganz direkte Verbindung. Du verstehst ganz gut, dass hier zum Beispiel irgendwelche alte Frau ist und das Haus ist zerstört. Du kommst, reparierst, aufräumst und du siehst gleich das Ergebnis. Und das inspiriert."
Dmytro hat seine Freiwilligen in verschiedene Teams aufgeteilt. Nur die wenigsten hier verstehen etwas vom Handwerkern. Dafür ist ihre Motivation umso größer. Während im Osten der Ukraine der Zermürbungskrieg weiter tobt, wollen sie ihr zerstörtes Land wieder aufbauen. Und das beginnt mit Aufräumen, Schutt beseitigen.
Auf einem Grundstück stand das Haus von Nadia und ihrem Mann Wolodymyr Varenik. Bis Anfang März lebten die Rentner hier als Selbstversorger mit Kuh und Trecker. "Wir haben unser ganzes Leben hier gelebt. Wir haben hart gearbeitet. Wir hatten alles was wir brauchten. Dann kamen sie her und haben alles in einer Minute kaputt gebombt. Wie kann es da noch Gefühle geben. Ich fühle nur noch Schmerz. Bis zum Ende meines Lebens", sagt Nadia Varenik.
Der Schmerz, den Nadia beschreibt, geht auch an den Helferinnen nicht vorbei: "Wenn ich mir das vorstelle, fange ich an zu weinen. Ich will nicht. Es ist schwer. Ich habe meine Wohnung seit zwei Monaten nicht verlassen. Wir müssen es akzeptieren und mit unserem Leben weitermachen – egal, wie hart und schwierig es ist." Helfen hilft dabei. Und in der Mittagspause vor der zerstörten Kirche, kommt trotz der brutalen Realität sogar so etwas wie Festival-Stimmung auf.
"Das alte Europa hat leider vergessen, was die Solidarität ist"
Nur wenige Kilometer entfernt, werden im Nachbardorf Jahidne die ersten Erfolge des Wiederaufbaus sichtbar. In diesem Haus haben sie schon die meisten Schäden beseitigt. "Nach der Explosion wurde die Wand eingedrückt. Wir haben sie vollständig abgeschliffen, grundiert und verputzt. Heute und morgen haben wir das gleiche vor, aber in dem anderen Zimmer. Ihr könnt gerne gucken. Da sieht man die Einschläge", sagt Helfer Andrij.
Häuser haben sie hier seit dem Ende der russischen Besatzung wieder aufgebaut – und eine besondere Nähe zu den Menschen, die sie jede Woche besuchen. Die Menschen in der Ukraine, sie glauben fest an die Kraft ihres Zusammenhalts. "Es ist auch eine Weise des Kampfes. Und ehrlich gesagt: Ich meine, dass Europa und insbesondere das alte Europa hat leider vergessen, was die Solidarität ist", sagt Dmytro Kyrpa.
In der Ukraine machen sie gerade vor, wie es geht. Doch nicht alle werden in ihre Häuser zurückkehren können. Nadia wohnt gerade bei ihrer Tochter in der Stadt. Sie denkt darüber nach ein neues, kleineres zu bauen. Doch was ihr niemand zurückbringen kann, ist das Leben ihres Mannes. Wolodymyr wurde von russischen Soldaten getötet. "Mein Mann hat Rosen sehr geliebt. Hinter unserem Haus wuchsen sehr viele. Ich habe sie auf seinem Grab gepflanzt – und werde noch mehr pflanzen."
Autor: Vassili Golod
Stand: 20.06.2022 13:03 Uhr
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