So., 19.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Belgien: Kokain-Schwemme in den Häfen
Der Verkehr ist ruhiger als sonst, die Corona-Krise hinterlässt auch im Hafen Antwerpen ihre Spuren. Es kommen viel weniger Container als sonst herein. Mit einer einzigen Bewegung kann sich hier ein Kranfahrer ein Jahresgehalt verdienen. Den Container in eine andere Richtung bringen – es fängt klein an, mit vielen Komplizen und dann wird es immer größer: Es geht um ein milliardenschweres Geschäft mit dem Namen "Kokain". Derk Wiersum war Rechtsanwalt in den Niederlanden und verteidigte einen Kronzeugen in einem Prozess gegen eine kriminelle Vereinigung. Die bezeichnete die Staatsanwaltschaft als eine "gut geölte Tötungsmaschine". Derk Wiersum wird auf offener Straße kaltblütig erschossen.
Hafen Antwerpen: Einer der größten Einfallstore für Kokain
Es ist organisierte Kriminalität und er kennt ihre Strukturen. Wir nennen ihn Walter, er muss anonym bleiben. Walter ist Verbindungsmann verschiedener internationaler Ermittlungsbehörden. "Es sind nicht nur die Dockarbeiter, sondern es sind auch andere in viel höheren Positionen, so haben sie die volle Kontrolle über alles, was hier an Kokain hineinkommt. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Kriminelle nutzen neue technische Möglichkeiten, hacken Computer im Hafen, ändern dauernd die Strategie und versuchen immer etwas neues."
Antwerpen ist einer der größten Häfen weltweit – und eines der größten Einfallstore für Kokain. Millionen Container kommen an etlichen Terminals an – nur wenige davon kann der Zoll überprüfen. Sie werden mit einem Scanner, der ein Röntgenbild vom Container erstellt, überprüft. Ein spektakulärer Fund gelang dem belgischen Zoll vor einigen Monaten: Viele Tonnen Kokain versteckt zwischen Bananen.
Der Hafen Antwerpen ist der Umschlagplatz für Obst und Gemüse aus Südamerika. Ein Grund, warum Antwerpen bevorzugtes Ziel auch der Kokain-Mafia ist. Denn Kokain kommt ebenfalls meist Südamerika. Der belgische Zollchef beobachtet, wie sich das Angebot seit fünf Jahren verzehnfacht hat. Der rasante Anstieg hält auch in den Corona-Monaten an. "Was wir sehen ist, man hat in Südamerika jedes Jahr mehr und mehr Produktion von Kokain", sagt Kristian Vanderwaeren.
Die spektakulärste Lieferung landet vergangenen Dezember in Galizien: Die spanische Polizei fängt ein 20 Meter langes U-Boot ab. Die Ladung: drei Tonnen Kokain mit einem Marktwert von 100 Millionen Euro. Zuvor hatte die Besatzung das U-Boot versenkt und versucht zu fliehen.
Skrupellose rivalisierende Mafiagruppen
Die europäischen Häfen sind offene Umschlagplätze für Waren aus der ganzen Welt. Und dazu gehören auch Drogen. Mehr als 60 Tonnen Kokain beschlagnahmt der Zoll im vergangenen Jahr in Antwerpen. Tatsächlich aber kommt viel mehr. Experten gehen von 600 Tonnen aus. Und fehlt plötzlich eine Lieferung, kommt es schnell zu Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Mafiagruppen. "Wer hat das genommen – ist es der Zoll oder ist es die Polizei? Oder sind es die anderen Mafiagruppen, die da waren. Und wir merken das, wenn wir eine sehr wichtige Ladung Kokain feststellen, dass es nachher Schießereien gibt", erzählt Zollchef Kristian Vanderwaeren.
Seit gut zwei Jahren gibt es immer wieder Anschläge mit Handgranaten und Schießereien – meist Auseinandersetzungen im Drogengeschäft. Oft reichen sie auch über die Grenze nach Rotterdam. Im Hafen von Rotterdam, nördlich von Antwerpen gelegen, beschlagnahmt der Zoll auch regelmäßig Rekordmengen Kokain. Die Händler und die organisierte Kriminalität arbeiten über die Grenzen hinweg – und zwar skrupellos.
Marengo-Prozess: Mord auf offener Straße
Der Mord an Derk Wiersum ist ein dramatischer Höhepunkt im sogenannten Marengo-Prozess: Er verteidigte einen Kronzeugen gegen einen der meistgesuchten Männer Europas. Dabei geht es um Ridouan Taghi, mutmaßlicher Kopf einer international tätigen Drogenbande. Taghi hatte sich nach Dubai abgesetzt. Spezialkräfte nehmen Taghi kurz nach dem Mord in einem Luxusappartment in Dubai fest. Und finden jede Menge Dollar Bargeld und gefälschte Papiere. Und dann, einige Monate später, noch eine Festnahme in Dubai. Diesmal wird einer der mutmaßlichen belgischen Drogenbarone verhaftet.
Die organisierte Kriminalität arbeitet über die Landesgrenzen hinweg. Ein großer Teil des Antwerpener Kokains geht in die Niederlande. Auch dort geht die Drogenmafia brutal zu Werke – wie bei einem Anschlag auf die niederländische Zeitung De Telegraf. Der Attentäter versucht das gesamte Verlagsgebäude in Brand zu setzen. Kurz vorher veröffentlichte De Telegraf eine Enthüllungsgeschichte über einen wichtigen Kriminellen. Oft sind es junge Leute und sie nennen sie "Kokain-Cowboys".
Journalisten arbeiten hier unter Polizeischutz. "Es gibt eine Abteilung für Drogen. Es gibt eine Abteilung für Geldwäsche und eine Abteilung für Gewalt. Und darunter hast du spezialisierte Teams, die schnelle Autos stehlen und verstecken. Und sie haben Waffen und können töten. Und wenn sie wollen und einen als Feind auf die Liste setzen, dann observieren sie dich, machen Fotos die ganze Zeit. Das ist sehr professionell. Das sind die, die Erkundungen einholen. Und du hast die Schläger, die schießen und töten dan", sagt Mick van Wely, Kriminaljournalist De Telegraaf.
Zoll: Kontrolle und Schnelligkeit problematisch
Zurück in Antwerpen: Der Hafen ist Belgiens wichtigster Wirtschaftsfaktor. Der gigantische Containerumsatz muss schnell abgewickelt werden. Genau das nutzt die organisierte Kriminalität aus: "Kontrolle und Schnelligkeit ist problematisch. Ein Analyst braucht 15 oder 30 Minuten für einen Container, der kann nicht sechs, acht oder zehn Millionen Container kontrollieren. Was wir brauchen ist Künstliche Intelligenz, Computer und Algorithmen die erkennen, das sind keine Bananen sondern Drogen", sagt Kristian Vanderwaeren. Der Chef des Zolls arbeitet an solchen Technologien, räumt aber ein, dass es noch Jahre dauern wird, bis diese eingesetzt werden können.
Ein Gramm Kokain kostet in Antwerpen rund 50 Euro. Bei geschätzten 600 Tonnen, die jährlich in Antwerpen ankommen, ein Marktwert von mindestens 30 Milliarden Euro. "Wir werden das wohl niemals loswerden, wir können nur tun was uns möglich ist, um so viel Kokain aus dem Markt zu bekommen", sagt Walter. Doch es ist nur ein Bruchteil der tatsächlichen Lieferungen. Auch wenn er Container scannt und Drogenhunde einsetzt. Die Verluste nimmt die Kokain-Mafia in Kauf. Milliardengewinne bleiben den kriminellen dennoch.
Stand: 19.07.2020 20:18 Uhr
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