Mo., 26.09.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Estland: Aus Pflichtgefühl fürs Vaterland – die Bürgerwehr Kaitseliit
Marianne ist 25 und arbeitet in ihrem "normalen" Leben bei einem Online-Versand. Doch am Wochenende schlüpft sie oft in ein anderes Leben. Sie zieht die Uniform über, bemalt sich mit Tarnfarbe und übt schießen. Statt auszugehen, engagiert sich Marianne in der Kaitseliit, der estnischen Bürgerwehr – so wie 25.000 andere Esten auch. Handwerker, Lehrer, Unternehmer – es ist ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Sie bilden eine Freiwilligentruppe, vom Staat finanziert und zur Unterstützung der regulären Armee ausgebildet. Seit der Krise in der Ukraine finden diese Bürgerwehren im ganzen Baltikum großen Zulauf. "Ich mache es aus Pflichtgefühl fürs Vaterland", sagt Marianne überzeugt. Clas Oliver Richter war bei einem Manöver an der russischen Grenze dabei.
Seit einer Stunde liegt Marianne Kikas jetzt auf ihrem Wachposten und beobachtet die Umgebung. Plötzlich fallen Schüsse, von irgendwo her aus dem Wald. Niemand weiß so recht, von wo. Dann hat das Gewehr der jungen Frau eine Ladehemmung, die Übungsmunition verhakt sich im Magazin.
Seit mehr als 24 Stunden trainiert Marianne schon mit ihrer Einheit im Osten Estlands. Immer wieder werden sie angegriffen: Laut Drehbuch des Manövers sind britische Soldaten ihre Gegner. "Soweit wir wissen, sind es 15 britische Soldaten. Mal schauen, was passieren wird. Eigentlich sind wir ja in der Überzahl", sagt Kikas.
25.000 Wochenend-Soldaten ziehen regelmäßig ins Manöver
Die Kaitseliit, Estlands Bürgermiliz, übt in den Wäldern. Sie soll bei einem Angriff von außen die kleine reguläre Armee unterstützen. Der Staat finanziert die Freiwilligen-Truppe. 25.000 Wochenend-Soldaten, die mindestens fünfmal pro Jahr ins Manöver ziehen müssen. Das ist Vorschrift bei den Kaitseliit. Marianne ist seit zwei Jahren dabei: "Ich mache es aus Pflichtgefühl fürs Vaterland. Jeder muss doch etwas beitragen. Estland ist ein kleines Land, unser Wunsch ist es, dass es ein unabhängiges Land bleibt. Das motiviert mich."
Nicht alle aus Mariannes Freundeskreis verstehen, warum die 25-Jährige ihre Wochenenden im Matsch verbringt. Auch ihr Vater Indrek, ehemaliger Grenzpolizist, war anfangs skeptisch."Ich habe mir gedacht: Das muss sie selbst wissen. Sie war halt ein richtiges Mädchen, ich konnte sie mir im Wald kaum vorstellen, sie ist ja ein Stadtkind. Aber inzwischen geht es wohl besser."
Miliz ist Querschnitt durch estnische Gesellschaft
Immer mehr Frauen wie Marianne machen beim Kriegsspiel mit. Die Miliz ist ein Querschnitt durch die estnische Gesellschaft: Handwerker sind ebenso dabei wie Lehrer, Angestellte oder Unternehmer.
Die Esten sind Patrioten. Seit der Ukraine-Krise fühlen sich viele durch den russischen Nachbarn bedroht. Diese Angst motiviert so manchen zusätzlich: "Ich stamme aus der Generation, die noch die Sowjetunion erlebt hat, die alte Staatsordnung. Daher gebe ich mich keinerlei Illusionen hin. Wir leben hier, das ist unsere Heimat. Und ist es ja nicht zu bestreiten, dass es seit den Ereignissen in der Ukraine viel Aufregung hier in der Region gibt", sagt Kompanieleiter Janus Peet.
Viele Esten fühlen sich unsicher
Aber könnten die Freizeit-Soldaten überhaupt etwas ausrichten, wenn es ernst würde? Selbst der Kompaniechef ist da skeptisch: "Wir können uns nicht mit richtigen Soldaten vergleichen. Das sind Profis, wir sind nur Amateure." Alle, die bei dem Manöver dabei sind, fühlen sich unsicher in diesen Zeiten und üben deshalb immer häufiger direkt an der Grenze, zum Beispiel am Peipussee. Auf der anderen Uferseite liegt Russland. Es sind nur ein paar Hundert Meter von hier bis zur Grenzlinie in der Mitte des Sees.
Nach zwei Tagen im Wald ist Marianne Kikas erstmal erleichtert, als die Übung zuende ist: "Wenn gleich alles vorbei ist, dann will ich nur noch Ruhe haben. Aber wir müssen ja erst zurückfahren und unsere Ausrüstung reinigen. Ich bin immer froh, wenn wir wieder nach Hause fahren."
Wichtiger Einsatz für das Heimatland
Am nächsten Morgen dauert es länger, bis Marianne es aus dem Bett schafft. Nur drei Stunden hat sie am Wochenende geschlafen. Der Abenteuerurlaub bei der Miliz ist anstrengender als jedes Partywochenende. "Es ist aber auch wie Urlaub vom Alltag. Man kommt aus seinen Routinen raus, vergisst alles und kümmert sich nur darum, was vor Ort passiert. Deshalb ist es nie langweilig", sagt die junge Frau.
Schon bald wird Marianne Kikas wieder ins Manöver ziehen. Weil sie überzeugt ist, damit einen wichtigen Einsatz für ihr Land zu leisten.
Autor: Clas Oliver Richter, ARD-Studio Stockholm
Stand: 12.07.2019 20:38 Uhr
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