So., 28.07.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Griechenland: Kinder in Käfigen
In Griechenland hat das Heim von Lechena auf der Peleponnes traurige Berühmtheit erlangt, seit vor einigen Jahren bekannt wurde, dass die dort untergebrachten behinderten Kinder unter unwürdigen Bedingungen leben mussten. "Es gab 51 Bewohner, 36 davon waren permanent mit Fesseln oder Medikamenten ruhig gestellt. Es gab Menschen, die seit 22 Jahren in Holz-Käfigen in der Größe von 2x2x1 Metern gelebt haben und mal für eine Sekunde raus kamen. Dort drin wurden sie gefüttert und dort hat man ihnen auch die Windeln gewechselt", erinnert sich der Psychiater Yiorgos Nikolaidis, der den Skandal damals publik machte. Im Heim von Lechena fehlte es an allem, an Geld, auch an Personal. Jetzt, so heißt es bei den Behörden, sei vieles besser geworden.
Von außen sieht es aus wie ein typisches staatliches Heim für Menschen mit Behinderung – eines von ungefähr 70 in ganz Griechenland. Wir besuchen das Heim mit Yiorgos Nikolaidis. Er ist kein gern gesehener Gast. Aber offenbar will der Heimleiter endlich für positive Schlagzeilen sorgen. Sein berühmt-berüchtigtes Heim soll nicht länger als Heim der Schande gelten.
Nur einen Teil des Heims zeigt uns der Leiter Apostolos Lasaropoulos. Vieles habe sich hier schon verbessert. Endlich erhalte er auch Unterstützung von der Politik, sagt er. 45 Bewohner mit geistiger und körperlicher zählt das Haus, eigentlich ist es nur für 15 konzipiert.
Behinderte Heimbewohner gefesselt und in Käfigen
Antonis Rellas kennt das Heim in Lechena in- und auswendig. Vor vier Jahren hat er sich Zugang verschafft, hat das Haus regelrecht besetzt – weil er nicht hinnehmen wollte, dass so mit Menschen umgegangen wird: "Mit gefesselten Händen hinter dem Rücken, in Käfigen, medikamentös ruhiggestellt, das konnte man sehen. Schrecklicher Gestank, Fliegen überall, nur ein Minimum an Personal. Wir standen in einer Hölle", erinnert sich Rellas. Die Hölle dokumentiert er in seinem Film: Das Haus kalt, weil kein Geld für die Heizung da war. Viel zu wenig Personal, und das wenige, welches da war: Unqualifiziert. Viel zu wenig Essen, und das, was es gab schlecht. Menschen wurden in Käfige gesperrt, um sie ruhig zu stellen.
Um schnell helfen zu können, organisierte Psychiater Nikolaidis Unterstützung vom Europäischen Freiwilligendienst: Estelle und Pauline sind freiwillige Helferinnen, sie kommen aus Frankreich, erzählen uns, dass ihnen nicht erlaubt ist, mal mit den Bewohnern an die Luft zu gehen. Die Praktikantinnen sind erschrocken, was sie mitten in Europa erleben. Erschrocken über die Ignoranz des Personals: "Alles, was ich hier sehe, schockt mich. Das ist für mich nicht normal, denn sie respektieren die Menschenrechte nicht, die sie respektieren sollten. Viele Stunde liegen die Bewohner in schmutzigen Windeln, das riecht wirklich schlimm. Nicht heute – ihr habt Glück. Es gibt ein blindes Mädchen. Sie hat keine Musik, sie sieht nichts, sie hört nichts, sie ist alleine im Raum, da ist nichts, nur die Matratze, die sie anfassen kann, sie sieht nichts, sie hört nichts und wartet auf ihren Tod", erzählen die beiden.
Richtlinien aus Brüssel, aber keine nationale Strategie
Wie kann so etwas mitten in Europa möglich sein? Meri Theodoropoulou ist Chefin einer Nichtregierungsorganisation, die sich um die Belange von vernachlässigten Kindern jeder Art kümmerte. Sie reist deshalb regelmäßig nach Brüssel, bittet um Hilfe: "2015 wurden erste Richtlinien aus Brüssel vorgestellt, nachdem eine Expertengruppe in Athen war und sich dort mit zuständigen Stellen getroffen hatte. Sie hatte Druck ausgeübt, Verbesserungen angemahnt. Das Problem ist: Wir haben keine nationale Strategie. Andernfalls würden wir uns vielleicht an die Regeln halten können, dem ist aber leider nicht so."
Seit 2015 ist kaum etwas passiert. Noch immer werden die Rechte der Menschen mit Behinderung einfach ignoriert, erklärt Meri. Sie hofft auf härtere Maßnahmen aus Brüssel, hält Strafen für notwendig. Aber plant die EU Kommission denn weitere Maßnahmen wegen Missachtung der Rechte? fragen wir bei der EU- Menschenrechtskommissarin nach. Unsere Anfrage bleibt unbeantwortet.
Zurück in Lechena: Wir machen uns auf die Suche nach den Verantwortlichen. Der stellvertretende Bürgermeister des Ortes saß 13 Jahre im Heimvorstand. Aber auch heute kann er bei sich keine Schuld erkennen: "Der zuständige Minister und die entsprechenden Regierungen haben kein Fachpersonal angestellt. Zum Beispiel gab es auf drei Stockwerken des Heims am Nachmittag nur einen Angestellten pro Stockwerk. Wie ist es also möglich, die Kontrolle über die Kinder zu haben? Sie haben gesehen, in was für einer Lage sie sich befinden! Deshalb waren sie in Käfigen oder manche angebunden, was natürlich inakzeptabel ist, aber es war nicht anders möglich."
Gesellschaft interessiert sich nicht für Situation in den Heimen
Es war anders nicht möglich? Eine schockierende Aussage. Doch nun soll alles besser werden, beteuert der Heimleiter: "Wir haben uns im vergangenen Jahr darauf konzentriert, die Lebensbedingungen der Menschen hier zu verbessern und sie dabei zu unterstützen, ihre Wahrnehmung und Motorik zu entwickeln, um sie als Personen wahrzunehmen. Das hat viel Zeit und Arbeit benötigt. Das schafft man nicht in einem Monat. Also muss man erst irgendwo beginnen, um am Ende die Verlegung der Bewohner zu erreichen."
Aktivist Antonis Rellas kann sich gut vorstellen, dass das, was im staatlichen Heim von Lechena passiert, auch in anderen Heimen Alltag ist: "Die Situation in den griechischen Heimen und die Auseinandersetzung mit dem Thema könnte man als sehr gestrig beschreiben. Das bedeutet, dass die Gesellschaft sich seit Jahren so verhält, als ob sie nichts davon wüsste. Die wenigen Bilder von Heimen, die sich am Stadtrand, auf dem Dorf oder einem Berg befinden, die überhaupt an die Öffentlichkeit kommen, für die interessiert sich hier im Land niemand." Rellas will nicht aufgeben, er will weiterkämpfen für all die vergessenen Seelen in seiner Heimat. Doch er weiß, große Unterstützung hat er dafür nicht.
Autorin: Ellen Trapp, ARD-Studio Rom
Stand: 28.07.2019 21:32 Uhr
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