Mo., 04.07.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Nach dem Referendum – Katerstimmung auf der Insel
Stoke-on-Trent liegt in den Midlands, dem Herz Großbritanniens. Hier ist das Zentrum der englischen Töpfereiindustrie , einst der Stolz des Landes. Heute jedoch überwiegt der wirtschaftliche Niedergang.
Fensterputzer Bob Greatbatch ist auch mit 70 immer noch auf der Leiter – sieben Tage die Woche. Die Rente reicht nicht. Er ist wütend, richtig wütend – auf die da oben, nur die von der rechtspopulistischen UKIP haben ihn verstanden: "Unsere Premierminister und Abgeordneten, die sollten mal hierher kommen und sich das angucken. Aber die sitzen in ihren feinen Büros. Sie kümmern sich nicht. Deswegen haben wir alle out gewählt. Und jetzt meckern die Jungen mit uns, wir hätten ihnen die Zukunft versaut. Ich hatte zwei Gründe. Ausländer raus und meinen Kinder soll es besser gehen."
"Es sind zu viele Ausländer"
Es sind Sätze, die uns hier auf der Hope-Street immer wieder begegnen – beim Herrenfriseur oder im Damensalon: "Es sind zu viele Ausländer. Zu viel ist zu viel. Sie tun mir ja leid, dass sie kein eigenes Land haben." Hier zündete der Brexit-Wahlkampf vom vollen Schiff, von den Fremden, die Jobs und Arztermine wegschnappen, auch wenn in Stoke gar nicht viele EU-Ausländer leben.
Über 70 Prozent haben für den Brexit gestimmt – auch Richard Stubbs. In Deutschland hat er gelebt, in Australien, Musik ist sein Leben. Zu viele Brüche sieht er da draußen, Vernachlässigung, ein gespaltenes Land: "Der Reichtum ist so ungerecht verteilt in diesem Land, zwischen Leuten da unten und da oben. Und es fühlt sich so an, dass die EU ein Teil des Problems ist."
Ganz Stoke-on-Trent ist eine Streichliste
Sajid Hashmi hat sein Büro in einer alten Töpferei. Mit EU-Geldern hat er seinen Wohlfahrtsverband finanziert, schon lange gibt es keine Mittel mehr aus London. Gestrichen, Sparzwang – ganz Stoke-on-Trent sagt er, ist eine einzige Streichliste: "Viele Jobs im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, bei der Polizei fielen weg. Und es gab für die Leute einfach keine neuen. Viele scheinen nicht zu sehen, dass das die Folgen der Austeritätspolitik sind und auf das Konto der Regierung in London gehen.
Überall in der Stadt gibt es noch die Erinnerung an die guten Zeiten, als das Porzellan aus Stoke (made in England) Weltruhm hatte, Zehntausenden Arbeit gab und eine Stadt stolz und wohlhabend machte. Das ist vorbei.
EU-Migranten müssen als Sündenböcke herhalten
Was es heißt, wenn eine Region abgeschrieben, vergessen wird, und was das mit den Menschen macht, will uns Sajid am Beispiel einer runtergekommenen Siedlung zeigen, aber plötzlich fährt es ihm wieder in die Knochen. Genau hier wird er angegriffen: "Raus mit Dir", schreien sie ihn an, "wir sind jetzt nicht mehr in der EU und können Euch Ausländer rauswerfen." Dabei ist er Brite, wie die Pöbler. "Plötzlich scheint es ok zu sein, wenn du ein Rassist bist und Vorurteile hast. Früher hätte das niemand so gesagt. Wir sind intolerant geworden. Wir verlieren das Beste in uns: Fremde willkommen zu heißen, tolerant zu sein."
Es gibt Versuche , solche Siedlungen wieder lebenswert zu gestalten , aber die Mittel fehlen , um den spürbaren Unterschied zu machen. Wir treffen Lawrence, er besitzt ein Häuschen, hat einen Job und trotzdem hat er für den Brexit gestimmt. Er will uns zeigen warum: Hinter einem Tor liegen zwei Kopfkissen und zwei Decken. "Hier hausen Engländer, Kinder, 18 bis 19 Jahre alt. Vernachlässige deine Leute nicht zum Wohle der Fremden, aus Rumänien oder Polen", sagt Lawrence Poxton.
Die EU-Migranten müssen herhalten als Sündenböcke. Und die Masse hat aufbegehrt. Entdeckt ihre Macht. "72 Prozent der Menschen haben beim Referendum mitgemacht. Jede Stimme hat Einfluss, anders als bei der Parlamentswahl. Beim Referendum zählst Du", erklärt Poxton.
Regierende akzeptieren Armut schon zu lange
Immer haben sie hier für Labour gewählt, aber auch von denen fühlen sie sich nicht mehr vertreten. Hier haben sich die rechten Parolen verfangen, von einer Insel, die sich selbst regiert und ihre Grenzen dichtmachen kann. "Der Fakt, dass hier in Stoke 70 Prozent für den Brexit gestimmt haben, zeigt, wie wütend die Leute sind über die Regierung. Sie wollten am Ende nicht Europa verlassen, sondern der Regierung in London eine Lektion erteilen – ihr habt uns zu lange ignoriert", sagt Sajid Hashmi.
Sajid sorgt sich um sein Land, um das politische Vakuum , das entstanden ist . Er ist sich sicher, dass die Menschen enttäuscht werden, weil der Brexit- Wahlkampf auf Lügen fußte und sich Hoffnungen nicht erfüllen, in einer Stadt, in einem Land, in dem die Regierenden Armut zu lange schon akzeptieren.
Autorin: Hanni Hüsch, ARD-Studio London
Stand: 12.07.2019 05:15 Uhr
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