Mo., 19.12.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Kenia: Der Nussknacker und die Kinder aus dem Slum
Ein letztes Mal üben die Tänzerinnen und Tänzer ihre Schritte mit den Trainern. George Okoth wird gleich im Nationaltheater von Nairobi den "Nussknacker" tanzen, der zu einem Märchenprinzen in der Heiligen Nacht wird: "Ich versuche es einfach wie mein tägliches Training zu sehen. Die Schritte kenne ich, aber die Geschichte rüberzubringen, das ist gar nicht so einfach", sagt er – vor allem, wenn man sonst nicht in der Welt von Samt und Seide zu Hause ist.
Aus sehr unterschiedlichen Welten kommen sie für diese Aufführung zusammen. "Mir geht es hier gut. Meine Freundin Virginia behandelt mich wie ihre Schwester. Ihr ist es egal, dass ich aus dem Slum komme", erzählt Pamela Ouma. Auf der Bühne leben sie alle in derselben Märchenwelt. In der Welt des Nussknackers, der zum Leben erwacht und den Kampf gegen böse Mächte gewinnt. Ende gut, alles gut.
Der Kampf im Slum-Alltag
So ist es oft nicht im Alltag der Menschen in Kenias größtem Slum Kibera. Von hier kommen einige der jungen Tänzer, auch George und Pamela. George bringt gerne Freunde mit nach Hause zu seiner Mutter. Seine Geschwister sind alle gestorben, leider nichts Ungewöhnliches hier. Doch der 14-Jährige kämpft nicht nur als Nussknacker im Märchen: "Ich spiele im Ballett ja einen Prinzen – so, dass ich mich schließlich selbst wie ein Prinz fühle. Dann komme ich in den Slum zurück und helfe meinen Freunden, ihr Leben zu verbessern."
Nach dem Verlust von sechs Kindern kommt bei Emily Awino, Georges Mutter, keine Weihnachtsstimmung auf. "Weihnachten fühlt sich so an, als ob Maria das Christkind abgetrieben hätte. Es ist sehr hart für uns, wir sind bitterarm. Wir sind schon froh, wenn wir wenigstens gesund sind." Ihren Sohn hat sie noch nie tanzen sehen. Auch diesmal, meint sie, habe sie keine Zeit, sich eine der Aufführungen anzuschauen.
"Ich kann es schaffen!"
Pamelas Familie blickt dem Fest nicht viel fröhlicher entgegen. Vor kurzem ist ihr Bruder gestorben. Von seinem Einkommen waren auch die Eltern abhängig. Umso mehr Druck lastet auf der 13-Jährigen. "Wenn ich bedenke, wo ich herkomme und jetzt mit den Kindern der Reichen tanze, dann denke ich: 'Ich kann es schaffen!' Ich arbeite hart, auch, um meine Eltern hier herauszuholen und ihnen ein gutes Leben zu bieten. An Weihnachten bleiben wir zu Hause und kochen Maisbrei mit Gemüse. Für mehr haben wir kein Geld. Mein Vater ist Schreiner und hatte vor ein paar Jahren ein teures Bett gebaut, das am Tag vor Weihnachten verkauft werden sollte. In der Nacht zuvor regnete es aber und wir hörten nicht, dass jemand das Bett einfach stahl. Wir haben dann nicht gefeiert. Seither ist Weihnachten nie mehr schön gewesen."
Im "Dance Center" in einem wohlhabendem Vorort Nairobis feilen die Kinder aus ärmlichsten Verhältnissen an ihrem Traum, vier- bis fünfmal pro Woche haben Pamela und George Ballettunterricht und dann noch die Proben für die jährliche Weihnachtsaufführung. Die amerikanische Tänzerin Cooper Rust hat die Slumkinder entdeckt und ermöglicht ihnen den Unterricht durch ein Stipendium. Die Ballettschule ist weit weg von ihrem Zuhause, daher wohnen sie die meiste Zeit in einer Wohnung, die ebenfalls das Tanzzentrum bezahlt.
Pamela, George und zwei weitere Jungen haben hier ihre kleine Tanzfamilie. Kennengelernt haben sie sich beim Ballettunterricht – im Slum. "Mein früherer Trainer Mike hat immer gesagt, dass wir ein Ziel vor Augen haben sollen. Ich habe deswegen hart dafür geschuftet, damit das Tanzen mich im Leben weiterbringt“, erzählt Pamela Oumo.
Selbstbewusstsein und Hoffnung
Noch immer gibt Mike Ballettunterricht im Slum Kibera. Pamela und George kommen manchmal noch zu Besuch. Ihren Freundinnen zeigt Pamela, was sie inzwischen gelernt hat – auf der reichen Seite der Stadt, in einer anderen Welt. Trainer Mike kann nicht allen Kindern eine Karriere versprechen. Aber er gibt ihnen Selbstbewusstsein – und ein bisschen Hoffnung: "Ich fände es toll, wenn es nicht nur in den wohlhabenden Stadtteilen ein Publikum für Ballett gäbe, sondern auch im Slum. Wir hätten hier in Kibera gerne eine Art Broadway."
Bis es soweit ist, müssen die Eltern weit fahren, um ihre Kinder auf der Bühne zu sehen. Georges Mutter ist doch gekommen – zum ersten Mal wird sie ihren Sohn auf der Bühne sehen. Was für eine Überraschung! In der strahlenden Märchenwelt des Nussknackers gewinnt George wieder den Kampf gegen das Böse. So leicht, wie es in seinem wahren Leben kaum je möglich ist. Aber heute will George ein Prinz sein – für seine Mutter. So schön wie dieser Abend kann Weihnachten gar nicht werden.
Autorin: Sabine Bohland, ARD-Studio Nairobi
Stand: 13.07.2019 12:24 Uhr
Kommentare