So., 15.03.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Neuseeland: Ein Jahr nach dem rechten Terror von Christchurch
Es ist genau ein Jahr her, dass ein australischer Neo-Nazi in Christchurch zwei Moscheen überfällt, 51 Menschen kaltblütig tötet und 50 weitere verletzt. Wassiem Alsati wird von vier Kugeln getroffen, er überlebt den Anschlag, aber bis heute leidet er unter den Folgen – selbst das Vorlesen kann eine Qual sein. Wassiem Alsati und seine Tochter Alen hatte der Attentäter vor der Moschee niedergeschossen. Wassiem hatte vier Kugeln im Körper, Alen drei. Er will es sich nicht anmerken lassen, aber der vierfache Vater hat Schmerzen wegen der Kugelsplitter in seinem Körper. "'Kannst du mit uns irgendwohin gehen? Können wir schwimmen gehen?'", fragen die Kinder oft, "aber ich habe einfach nicht die Kraft dazu. Es war das schlimmste Jahr in unserem Leben. Es war wirklich das schlimmste Jahr im Leben vieler Menschen."
Seit sechs Jahren lebt der Jordanier in Christchurch. Den mobilen Frisiersalon betreibt er gegen den Rat der Ärzte. Doch waschen, schneiden, föhnen hilft gegen Verzweiflung und Wut. Ja, Neuseeland habe gehandelt, sagt er: halbautomatische Waffen, wie der rechtsextreme Täter sie benutzte, sind inzwischen verboten. Auch das Video von der Tat weiterzuverbreiten, steht unter Strafe. Aber trotzdem bleiben Fragezeichen: "Hätten sie, wenn sein Name Mohammed gewesen wäre, nicht ganz andere Fragen gestellt? Der Mann hat nicht mal seine Waffenscheinnummer eintragen müssen, als er seine Munition bestellt hat. Die Polizei, die Geheimdienste, die Regierung – sie haben große Fehler gemacht", sagt Wassiem Alsati.
51 Tote beim Terroranschlag in Christchurch
Der 34-Jährige weiß nicht, ob er je das beschauliche Leben in Neuseeland führen kann, von dem er mal träumte. Es stehen weitere Operationen an. Im Juni wird er vor Gericht gegen den Täter aussagen. Er hofft auf eine harte Strafe und dann will er mit allem abschließen. Jetzt kann ich mit meinen Kindern und meiner Frau, die einen Hijab trägt, durch die Straßen laufen, ohne Angst zu haben. Jetzt werde ich akzeptiert. Vorher sind uns Menschen aus dem Weg gegangen. Das war hart. Wir haben einen hohen Preis dafür bezahlt, das Vertrauen der westlichen Gesellschaft wiederzugewinnen. Wir haben mit unserem Blut für Neuseelands Vertrauen bezahlt. Doch auch wenn er noch keinen neuseeländischen Pass hat, sein Herz ist jetzt hier zu Hause.
43 der 51 Toten des Terroranschlags vom 15. März 2019 sind in Christchurch begraben. Auch Farid Ahmed betet gegen den Schmerz. Er trauert um seine Frau Husna. Inzwischen hat er ein Buch über sie geschrieben, ein Buch über das Verzeihen. Er wird nicht zum Prozess gehen, will den Täter nicht hassen, auch wenn der ihm den wertvollsten Menschen in seinem Leben genommen hat: "Wir haben eine Wahl, wenn uns etwas Schlimmes passiert. Lassen wir uns von negativen Gefühlen zerstören oder nicht. Ich habe mich für meine Freiheit und den Frieden in meinem Herzen entschieden. Der Täter hat es nicht geschafft, mir diese Freiheit zu nehmen."
Neuseeland hat der Welt gezeigt, wie man mit Terror umgeht
Allah segne unser Land – das Land von Liebe und Anteilnahme steht vor der Al Noor Moschee. In Neuseeland spricht kaum jemand den Namen des Täters aus, er soll keine Bühne bekommen. Und doch ist nichts wie zuvor. Rund um die Moschee sind jetzt überall Kameras und beim Freitagsgebet gibt es einen Sicherheitsdienst. Vor einem Jahr stand Imam Gamal Fouda vor seiner Moschee und weinte. Heute sagt er: "Wir haben lernen müssen, dass Neuseeland nicht das Paradies ist. Aber Neuseeland habe der Welt gezeigt, wie man mit Terror umgeht, ohne eine Gruppe vom Menschen an den Pranger zu stellen." Er selbst ist inzwischen in die Lokalpolitik gegangen und Mitglied der Stadtbezirksversammlung: "Ich will mich an den politischen Entscheidungsprozessen in diesem Land beteiligen. Ich will das praktizieren, was ich predige. Ich kann nicht nur hier reden, sondern muss nach draußen gehen und Brücken bauen. Man muss nicht nur reden, sondern auch handeln."
Noch arbeitet eine Untersuchungskommission den Anschlag auf. Er war ein Weckruf für die Geheimdienste, sagt Paul Spoonley, Experte für rechtsextreme Gruppen in Neuseeland. Seit dem Anschlag haben die Behörden so viele Hinweise aus der Bevölkerung über Rechtsextreme bekommen wie nie zuvor. Aber, sagt er: Ein Problem ist, dass Extremisten international, über Grenzen hinweg agieren. Der Attentäter ist Australier. Es reicht nicht, in Neuseeland Rechtsextreme zu beobachten. Wir müssen uns da sehr stark mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder austauschen.
Solidarität mit den Muslimen
Auch diese Bilder gingen vor einem Jahr um die Welt: Frauen, die aus Solidarität mit den Muslimen Kopftücher tragen. Damals haben sich Jo Bailey und Zarah Hussaini kennengelernt und beschlossen, dass Mahnwachen nur ein Anfang sein können. Sie haben einen Verband für Frauen aller Religionen gegründet – Uniting Canterbury Women. Seitdem treffen sie sich regelmäßig zu Parkspaziergängen und Abendessen. "Ich wusste genau, dass mein Freundeskreis vorher nicht so vielfältig war. Es ist eine wunderbare Erfahrung, dass ich durch unsere Gruppe nun Freunde mit ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wurzeln habe", sagt Jo Bailey. Zarah Hussaini ergänzt: "Wenn man über seinen eigenen Tellerrand hinausschaut und sich die Mühe macht, jemanden kennenzulernen, der anders aussieht, dann versteht man vieles sehr viel besser."
Autorin: Sandra Ratzow, ARD Singapur
Stand: 15.03.2020 19:04 Uhr
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