Mo., 18.04.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Kampf gegen Drogensucht
Die Statistiken zum Drogenkonsum in Russland sind alarmierend: Jeden Monat sterben 5.000 Menschen an Drogen. Zum Vergleich: In den USA gab es im gesamten letzten Jahr 8.000 Tote. Nach Expertenschätzungen ist Russland der mit Abstand größte Verbraucher von Heroin weltweit. Hier werden 20 Prozent der weltweiten Heroin-Bestände umgesetzt. Das ist im Vergleich dreieinhalb Mal mehr als in den USA und Kanada zusammen oder doppelt so viel wie in China. Das Durchschnittsalter der Drogentoten beträgt 28 Jahre.
Trotz der drakonischen Strafen für Drogendelikte ist keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil: In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Suchtkranken in Russland beinahe verdoppelt. Jetzt sind zudem Designerdrogen wie "Spice" auf dem Vormarsch.
Drogenbestellung online oder per SMS
Nicolai ist seit zehn Jahren drogenabhängig. Angefangen hat der 28-Jährige – wie so viele Russen – auf Partys. Amphetamine und Heroin nahm er, heute die Modedroge "Spice". Die ist in Russland leicht zu haben. Er bestellt per SMS. Zehn Minuten später kommt eine Nachricht mit der Adresse. Er kann sein Päckchen in einer Mauerritze abholen. Meistens läuft es so unkompliziert. "Früher musstest Du dich persönlich mit jemandem treffen. Der Deal lief von Hand zu Hand. Das war gefährlich. Man konnte von der Polizei geschnappt werden. Heute ist es viel einfacher", erzählt Nicolai.
Dimitri Botov kennt die Beschaffungswege. Er war selbst elf Jahre abhängig. Jetzt geht er in der Stiftung "Stadt ohne Drogen" in Jekaterinburg gegen Drogen vor. Online kann man die Designerdroge "Spice" bestellen. Die Zutaten stammen aus China und überschwemmen den russischen Markt. "Onlineshops für den Vertrieb von Drogen gibt es viele. Der Betreiber des Shops kauft größere Mengen ein und verteilt sie in Päckchen in der Stadt, die dann gekauft werden", erzählt Botov. Die Preise für "Spice" sind niedrig im Vergleich zu Heroin oder Kokain. Man kauft per Mausklick. Genutzt wird das sogenannte Darknet, der Teil des Netzes, der für illegale Geschäfte missbraucht wird. Dimitri und sein Kollege melden die Portale den Behörden.
Andere Anti-Drogen Aktivisten machen Jagd auf Drogendealer. In fast allen russischen Großstädten haben sich solche Gruppen gegründet. Sie heben Drogenlager aus. Denn die Polizei sei überfordert, meinen sie. Sie brandmarken die Händler, stellen die Videos ins Netz, um sie zu outen.
Junkies werden immer jünger
Lagebesprechung in der Stiftung "Stadt ohne Drogen". Alle hier sind ehemalige Junkies, auch ihr Chef Andrej Kabanov. Heroin ist etwas zurückgegangen in Jekaterinburg. Doch die Designerdrogen sind auf dem Vormarsch. Die Junkies sind extrem jung, warnen sie. "Früher waren Drogensüchtige 23 bis 25, heute 14 bis 15. Wir haben auch 9-Jährige und sogar 6 Jahre alte Kinder, die Drogen konsumieren", erzählt Dimitri Botov.
Andrey Kabanov war elf Jahre süchtig. Er ist stolz darauf, aus eigener Kraft von Drogen losgekommen zu sein. Sucht sei keine unheilbare Krankheit, meint er, sondern eine Schwäche, die man besiegen müsse. "Weltweit werden Medikamente beim Entzug eingesetzt. Wir rehabilitieren ohne eine einzige Tablette – schneller, leichter und einfacher", sagt er.
"Kalter Entzug" im Nirgendwo
Durch einen "kalten Entzug" hat auch Roman seine Abhängigkeit besiegt – nach 13 Jahren. Jetzt hilft er anderen Junkies beim Entzug auf einem Hof der Stiftung in den Wäldern von Jekaterinburg. Hier sind sie ganz auf sich allein gestellt. Sie müssen überleben, ohne Hilfe von Außen. Die Junkies müssen sich einem streng geregeltem Tagesablauf unterwerfen. Dafür sorgt Roman. Das ist jetzt sein Job. Jeder muss hier anpacken. Sie sind Selbstversorger, leben wie im Kollektiv. "Körperliche Arbeit tut dem Menschen gut. Eine Reha darf daher nicht leicht sein, sie darf aber auch nicht zu schwer sein", sagt Roman.
Arseni hat die ersten sechs Monate geschafft. Als Großstadtmensch tat er sich anfangs schwer im Stall. Er vermisst seine Frau und seine drei Kinder. Aber lieber ein Jahr ohne sie, als ein ganzes Leben. "Wenn Du hier ankommst, willst Du einfach nur weglaufen. Du willst so schnell wie möglich weg – mit allen Mitteln. Dann, nach und nach, wenn dein Körper anfängt sich zu reinigen, kommt die Einsicht, dass nicht alles im Leben verloren ist", erzählt Arseni. Auch bei ihm begann der Drogenkonsum auf Partys in St. Petersburg: "Es fing mit leichten Drogen an. Dann kamen schwere dazu, Probleme zuhause. Meine erste Frau verließ mich."
Das Mittagessen müssen die Ex-Junkies selbst zubereiten. Roman sorgt auch hier für Ordnung. Keiner darf bevorteilt werden. Das könnte Ärger geben. Kameras gibt es in jedem Raum, Roman überlässt nichts dem Zufall. Im Augenblick lebt er hier fast wie ein orthodoxer Priester. Doch irgendwann will auch er wieder zurück in sein altes Leben. Er ist gelernter Schuhmacher. Man mag den "kalten Entzug" im Westen für grausam halten. Aber gegen Drogen, meint er, könne man nur mit Härte vorgehen.
Russische Behörden zunehmend machtlos
Ortswechsel: Nikolai sieht keinen Grund mit den Drogen aufzuhören. Bislang kann er seine Sucht vor seinem Arbeitgeber verheimlichen. Er hat sich gerade genug Stoff für die nächsten Tage besorgt. Für ihn gehören die Drogen längst zu seinem Lebensstil. "Es werden immer mehr Jugendliche, vor allem auch weil es so leicht ist, sich über das System mit den Verstecken Drogen zu beschaffen. Man wird seltener gefasst", sagt er. Russlands Großstädte bieten unendlich viele Verstecke. Die russischen Behörden sind dagegen zunehmend machtlos.
Autorin: Birgit Virnich, ARD-Studio Moskau
Stand: 11.07.2019 15:01 Uhr
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