So., 19.07.20 | 19:20 Uhr
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Kaliningrad: Russlands "Festung" umringt von NATO-Staaten
In den vergangenen Monaten haben die USA eine Reihe von Abrüstungsverträgen auslaufen lassen oder gekündigt. Die Begründung: Aufgrund der veränderten Weltlage taugen die alten Verträge nicht mehr. Außerdem habe Russland in seiner Exklave Kaliningrad neue, moderne Raketensysteme stationiert, die für die Sicherheit der NATO-Staaten in Mittel- und Westeuropa eine ernsthafte Bedrohung darstellen. In Kaliningrad sehen die Menschen diese Entwicklungen mit Sorge.
Eine ehemalige Kirche, eine verfallene Mühle – Spuren der Vergangenheit in der Siedlung Schelesnodoroschnyj. Bis zum Zweiten Weltkrieg hieß der Ort Gerdauen, jetzt gehört die Region zu Russland. Zur polnischen Grenze sind es nur zwei Kilometer. Die Lehrerin Tatjana Rewenko ist zu Zeiten der Sowjetunion hierher gezogen. Dass die politischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen zunehmen, kann sie nicht verstehen: "Es ist töricht, was da gerade passiert. Ich denke, wir sind kein kriegerisches Volk, niemand will gegen jemanden Krieg führen. Die wollen sich verteidigen und wir wollen ihnen zeigen, dass auch wir unser Territorium gebührend verteidigen können."
Kaliningrad Streitpunkt zwischen USA und Russland
In Schelesnodorschnyj wird neues Kopfsteinpflaster verlegt, die Häuser bekommen einen neuen Anstrich – auch das Haus, in dem Tatjana Rewenko wohnt. Touristen kommen. Es ist eine Initiative von Anton Alichanow, dem jungen Gouverneurs von Kaliningrad. Seine Region werde immer nur mit Militär und Aufrüstung in Verbindung gebracht – genau das ist der 33-Jährige leid: "Ich hätte lieber mehr solche Werbung als Geschichten über zunehmende Militarisierung. Die gibt es nicht, wenn man es mit den anderen Ländern vergleicht. Es ist das gleiche wie bei unseren Nachbarn, den Polen oder Litauern." Dennoch: Mehr US-Soldaten im benachbarten Polen, das beunruhige schon. "Unsere Baltische Flotte, die in in Baltijsk zu Hause ist, ist gut ausgebildet für Zwischenfälle aller Art. Deshalb fühlen wir uns hier in Sicherheit", sagt Alichanow.
Baltijsk ist die westlichste Stadt Russlands, Heimathafen der baltischen Flotte. Auch deshalb ist das Kaliningrader Gebiet für Russland strategisch so wichtig. In Kaliningrad liegt aber auch einer der Streitpunkte im jüngsten von den USA gekündigten Abkommen, dem Open Skies-Vertrag. Er ermöglicht militärische Beobachtungsflüge über andere Staaten. So sitzen Amerikaner, Franzosen und Briten neben Russen und überfliegen festgelegte Routen, machen Fotos und Radaraufnahmen. Rüstungskontrolle schafft Vertrauen. Das ging lange gut. Unter anderem über Kaliningrad begrenzte Russland aber die Flüge – die USA stiegen aus dem Vertrag aus. Für den russischen Ex-Militär Jewgenij Buschinskij unverständlich: "Über Kaliningrad sind gerade mal zehn Prozent für den Überflug gesperrt. Was die Amerikaner angeht, so sind 90 Prozent von Alaska für russische Flugzeuge gesperrt. Natürlich ist das ungerecht. Aber man kann immer Kompromisse finden."
Abrüstung und Kompromisse nicht in Sicht
Doch Kompromisse sind in diesen Zeiten eher nicht in Sicht. Auch der INF-Vertrag über nukleare Kurz- und Mittelstreckenraketen ist schon nicht mehr in Kraft. Die USA halten diese russische Rakete für eine Vertragsverletzung. Und der letzte große Abrüstungsvertrag über strategische Atomwaffen läuft im Februar 2021 aus. Im Jahr 2010 unterzeichneten den New Start-Vertrag die gut gelaunten Präsidenten Obama und Medwedew. Zehn Jahre später scheint eine Verlängerung nicht mehr möglich. Russland würde zwar gerne, die USA wollen aber China dabei haben. Und China will nicht.
Zehn Jahre lang hat Jewgenij Buschinskij von russischer Seite Abrüstungsverträge betreut. Jetzt ist er pessimistisch: "Wenn man Vieles nicht weiß über die Möglichkeiten des Gegners, kann man seinen Gegner leicht überschätzen. Und das führt im Endeffekt zum Wettrüsten." Ein Wettrüsten, das aber schon begonnen hat. Russlands Präsident Putin hatte 2018 neue nukleare Waffensysteme angekündigt. Angeblich unbesiegbar, mit nahezu unbegrenzter Flugzeit – auch das laut Putin, weil ein Abrüstungsvertrag weggefallen war.
In Kaliningrad hat Russland vergangenes Jahr seine Flugabwehrsysteme modernisiert. Und im Himmel über der Ostsee kommen sich russische und NATO-Flugzeuge immer wieder gefährlich nahe – wie etwa Mitte Juni: Russische Kampfjets fangen einen US-amerikanischen Bomber und Aufklärungsflugzeuge aus NATO-Staaten ab, auch aus Deutschland. Die flogen im internationalen Luftraum im Rahmen einer jedes Jahr stattfindenden Übung. Russlands Militär will aber zeigen: Die russische Grenze ist nicht weit.
Die Lehrerin Tatjana Rewenko im Kaliningrader Gebiet bekommt von diesen Entwicklungen nur aus den Nachrichten etwas mit. Ein bisschen Angst macht ihr das aber schon: "Ich hoffe, dass unsere Regierung klug genug ist, neue Verträge auszuhandeln. Eigentlich sollte ja das Motto für alle sein, freundschaftlich verbunden zu sein – statt zu kämpfen." Rewenko möchte bald wieder eine enge Freundin im benachbarten Litauen besuchen, sobald die wegen Corona geschlossenen Grenzen wieder offen sind.
Autor: Demian von Osten. ARD-Studio Moskau
Stand: 19.07.2020 20:17 Uhr
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