So., 28.04.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Estland: Die Generation EU
Auf den ersten Blick mag der Unterricht etwas chaotisch aussehen. Diese Abiturienten eines Gymnasiums in Tallinn sollen einen Vortrag vorbereiten. Auch die Gruppe von Elise Lehtsaar arbeitet mit. "Wir arbeiten digital. Recherchieren im Netz und schreiben an unseren Laptops direkt die Präsentation. Wir suchen mit dem Smartphone nach Informationen. Das ist sehr praktisch. Außerdem braucht man diese digitalen Fähigkeiten heute überall. Das ist das besondere an Estland." Estland gilt als digitales Vorzeigeland. Doch es gibt auch mal Pannen. Gregor-Mattias Froš wird eilig nach vorne gerufen. "Es gibt ein kleines Konfigurationsproblem. Nichts Wildes. Was die Lehrer nicht hinbekommt, kriegen wir schnell gelöst!" Der Rechner läuft wieder. Die Präsentation kann starten.
Start-ups sind in Estland Lern-Stoff
In wenigen Tagen schreiben Elise und Gregor Abiturprüfungen. Und trotzdem nehmen sie sich Zeit für ihren Zweit-Job. Sie sind nämlich auch Unternehmer. Im Unterricht haben sie gelernt, wie man eine Firma gründet. Start-ups sind in Estland Lern-Stoff. Und den haben sie gleich in die Tat umgesetzt und diesen umweltverträglichen Luftfilter aus Moos entwickelt. Die Idee dazu hat Elise in einer Fernsehshow präsentiert. Seitdem gewinnen sie Preise und bekommen viele Bestellungen. Elise will in der Start-up-Welt bleiben und denkt schon jetzt über die Grenzen hinaus: "Estland ist ein kleines Land, hier leben nicht viele Menschen. Aber es gibt eine starke Unternehmer-Gemeinschaft, die mich sehr inspiriert. Ich will auch internationale Firmen gründen. Die EU macht das viel leichter." Noch auf dem Schulhof, die Möglichkeiten der Europäischen Union aber schon fest im Blick.
Estland ist das kleinste der drei baltischen Länder. Etwa 1,3 Millionen Menschen leben hier. Die meisten in der Hauptstadt Tallinn. Mit dem Eintritt in die Europäische Union vor 20 Jahren kam der Aufschwung. Die Wirtschaftsleistung Estlands hat sich seitdem mehr als verdreifacht. In Tallinn entstehen große Glaspaläste für Banken und Unternehmen. In den Vororten, mit Blick auf die Ostsee, leben die, die es zu etwas gebracht haben. Und in dieser Villa, arbeiten einige der gefragtesten Digital-Experten. Florian Marcus ist einer von ihnen. Der Deutsche berät Regierungen auf der ganzen Welt. Das Ziel: eine digitale Gesellschaft – nach dem Vorbild Estlands.
"Es geht um das Know-how, wie man aus alten Strukturen rauskommt und in eine neue digitale Gesellschaft einsteigt und da hat Estland wie Singapur und Dänemark schon gute Arbeit geleistet", sagt Florian Marcus, Proud Engineers. Wohnzimmer-Atmosphäre statt Bürogebäude: Estlands Digital-Experten können es sich leisten. Flexibles arbeiten, gute Gehälter. Das hat auch Florian Marcus angezogen. Auch das Familienleben habe hier so seine Vorzüge: "Wir haben jetzt eine sieben Monate alte Tochter. Die wurde gesund geboren. Wir haben dann drei Tage später eine Nachricht im Staatsportal bekommen. 'Alles Gute zur Geburt des Kindes, auf welches Konto geht das Kindergeld?' Das heißt: keine Anträge, nichts ausfüllen. Sondern einfach nur: 'Wir wissen ihr habt ein Kind. Wo geht das Geld hin?'"
Estland hat den Ruf als europäisches Musterland
Der Unterschied zu Deutschland sei riesig, sagt Marcus. Denn anders als zu Hause, gehen die Esten hier immer pragmatisch vor. "Das heißt, einfach mal probieren, sogenannte 80-20-Lösungen. Das heißt, erst einmal für einen Großteil der Bevölkerung eine Lösung erstellen und dann an den letzten 20 Prozent nacharbeiten. Es liegt auch an der mangelnden Fehlerkultur in Deutschland. Man möchte sehr gerne alles zu 110 Prozent machen. Das hält uns zurück. Besonders bei der Digitalisierung. Weil Digitalisierung immer verbessert werden muss."
Estland hat den Ruf als europäisches Musterland. Und doch habe Deutschland lange verhindert, dass sie in die EU kommen, sagt Toomas Ilves. Zehn Jahre lang, von 2006 bis 2016, war er Präsident des Landes, davor Botschafter und Außenminister. Besonders Helmut Kohl wollte Ende der 1990er-Jahre den Beitritt der Balten verhindern, erinnert er. Offenbar um Moskau nicht zu verärgern. "Also wollte ich einen Termin beim deutschen Botschafter. Sechs Wochen haben sie mich warten lassen. Das war schon komisch. Und als wir uns dann endlichen trafen, sagten er zu mir: 'Es tut mir leid. Der Beitritt Estlands sei nicht im Interesse der Bundesrepublik.' Okay, dachte ich. Dann kann ich ja wieder gehen."
Der Beitritt kam trotzdem. Auch weil die Balten hartnäckig bleiben und im Land zügig Reformen umsetzen. 2004 wird auch Estland EU-Mitglied. Doch wenn es um wichtige Posten in Brüssel gehe, kriegen estnische Kandidaten selten den Zuschlag, ärgert sich Ilves. Der ehemalige Präsident hat vor seinem Haus im Süden des Landes einen europäischen Park angelegt. Stolz zeigt er die Bäume, die viele europäische Politiker hier gemeinsam mit ihm gepflanzt haben. "Es ist ein Statement, dass wir bleiben. Und auch ein Statement, dass wir in der Europäischen Union weiter wachsen. Und eines Tages endlich gleichberechtigt sind." Auch wenn sie eines der kleinsten Länder der Europäischen Union seien: Talente hätten sie Estland genug, findet Ilves.Da müsse Europa nur zugreifen.
Autor: Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm
Stand: 28.04.2024 19:48 Uhr
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