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Afghanistan: Auf der Flucht

Afghanistan: Auf der Flucht | Bild: BR / Natalie Amiri

Ich treffe Hamed Ahmadi in Venedig. Er holt mich mit seinem Boot ab, wir wollen zusammen auf dem Markt einkaufen gehen, frisches Gemüse. Denn wir haben vor, gemeinsam in seinem Restaurant zu kochen. Er ist als afghanischer Flüchtling vor Jahren in Venedig gestrandet, jetzt ist er erfolgreicher Unternehmer mit mehreren Restaurants.
Eigentlich will ich mit ihm über Rezepte sprechen, doch es ist Freitag, der 13. August, die Taliban stehen vor der Stadt Kabul. Hamed überkommt auf einmal die Verzweiflung, er macht sich nicht nur Sorgen um das Schicksal seiner Schwester, die in Kabul lebt.

Die Taliban in Kabul

Zwei Tage später haben die Taliban Kabul erobert. Es ist Sonntag, der 15. August. Wir nehmen mit Hameds Schwester Sahar die sich in der Stadt befindet Kontakt auf. Sie geht nicht mehr auf die Straße, sagt sie uns. Vor ein paar Monaten hat sie in der Hauptstadt ein eigenes Restaurant eröffnet. Die Taliban mögen keine Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen. Sahar muss um ihr Leben fürchten. Sie kauft sich Nahrungsmittel für einen Monat, will sich Zuhause verbarrikadieren, packt dann doch ihre Sachen. Zuhause, sagen ihr Freunde, werden sie die Taliban abholen…

Sahar wird die nächsten Tage durch die Hölle gehen, sie nimmt uns mit. Seit die Taliban die Hauptstadt eingenommen haben, versuchen Zehntausende zu fliehen – wohin wissen sie nicht. Sahar ist eine von ihnen.

Flucht

Sie entscheidet sich zum Flughafen zu gehen. Ab hier dreht sie für uns mit dem Handy. Es ist schon dunkel als sie ankommt. Nur über den Luftweg, so hofft sie, kann sie das Land noch verlassen. Doch der zivile Luftverkehr ist inzwischen eingestellt. Lediglich Militärflugzeuge dürfen hier landen und abheben. Sahar steht auf einer Evakuierungsliste der Deutschen, zumindest wurde ihr das versprochen.
Der Flughafen ist ein einziges Chaos. Die Amerikaner betreiben im Norden des Flughafens seit Beginn des ISAF-Einsatzes eine eigene Basis. Von hier findet die Evakuierung statt. Nur wer es hierher schafft, kann fliegen. Das Problem: man kommt nicht rein.
Sahar gelingt es trotzdem die Nacht über am Flughafen zu bleiben, schlafen wird sie nicht. Sie beobachtet, wie sich ein Transportflugzeug der US-Luftwaffe mit Afghanen füllt, eigentlich sollte es nur Ausrüstung für die Evakuierungsaktionen liefern. Bevor die Besatzung das Material entladen kann, werden die Sicherheitsabsperrungen von Hunderten Afghanen durchbrochen. Die Crew an Bord entscheidet, das Flugzeug zu starten. Eigentlich hat es Platz für 134 Personen, es hebt mit 640 ab. Verzweifelte Afghanen halten sich am Fahrwerk fest. Mindestens zwei von ihnen stürzen in den Tod. Nach Landung der Maschine wird eine Leiche in einem Radkasten gefunden.

Warten auf die Evakuierung

Sahar wartet auf das Flugzeug der Bundeswehr. Mit ihr zusammen stehen weitere 60 Frauen auf einer Evakuierungsliste, die bereits vor der Eroberung der Taliban deutschen Ministerien vorlag. Auf ihr befinden sich enorm gefährdete Personen, die im Visier der Taliban stehen, selbstbewusste Frauen, die in der Öffentlichkeit auftraten, sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung einsetzten. Nur einige Wenige schaffen es zum Flughafen durchzukommen, schicken uns verzweifelte Nachrichten.

Sahar versucht immer noch in den militärischen Teil des Kabuler Flughafens zu kommen. Die Amerikaner treiben sie zurück. Plötzlich hört sie die Taliban näher kommen, man hört auf dem Video, das sie uns schickt, immer heftigere Gefechte. Sie ruft uns verzweifelt an. Wir sehen nur das Bild, der Ton ist weg, und kurz ihr entsetztes Gesicht. Später schickt sie uns ein weiteres Video, auf dem Taliban-Kämpfer zu sehen sind, die mit ihren Waffen in ein Flugzeug steigen.

Sie flieht aus dem Flughafen zurück nach Hause und schickt uns eine Sprachnachricht: "Heute ist etwas schreckliches passiert. Als wir aus dem Flughafen gestürmt sind, haben uns die Taliban gestoppt. Sie nahmen mir mein ganzes Gepäck, alles was ich dabei hatte, und das war das Wichtigste, was ich habe, haben diese Drecks-Taliban mir genommen. Du warst nicht dabei Natalie heute Nacht, es war schrecklich, kleine Kinder haben geweint, eine schwangere Frau ist zusammengebrochen. Die Menschen haben geschrieen. Von der einen Seite schossen die Amerikaner, von der anderen kamen die Taliban. Die armen Menschen Afghanistans genau dazwischen mit der Hoffnung dass sie auf ein Flugzeug kommen und sie wegbringt."

Die Luftwaffe landet.

Sahar hat es nicht gesehen: Das erste Flugzeug der Bundeswehr kreiste über ihrem Kopf. Doch das Rollfeld am Flughafen ist immer noch voll von Menschen, deshalb bekommt die A400M keine Landeerlaubnis. Nach stundenlanger Verzögerung landet dann die erste Evakuierungsmaschine der Bundeswehr, muss aber nach 30 Minuten aufgrund der Sicherheitslage wieder starten mit sieben Menschen an Bord, die evakuiert werden. Mehr Personen habe die Botschaft nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen bringen können, hieß es. Sahar wäre geblieben, hätte man es ihr gesagt, sagt sie uns.

Man sieht inzwischen kaum noch Frauen auf der Straße, erzählt uns Sahar. Trotzdem wagt sie sich erneut zum Flughafen. Dieses Mal versucht sie es gleich über den Nordeingang. Dort stehen aber inzwischen die Taliban vor dem Evakuierungsbereich und halten ihr eine Kalashnikov an die Stirn, schreien sie an abzuhauen, hier komme kein Afghane in den Flughafen.

Rettung durch die Italiener

Es ist die italienische Regierung, die Sahar schließlich hilft, in den militärischen Teil des Flughafens zu gelangen, nicht die deutsche, auf deren Liste sie eigentlich steht. Es heißt, wenn man es bis hier geschafft hat, kommt man auf eine Maschine, raus in die Freiheit. Seit sieben Uhr sitzt sie hier und wartet, dass sie ein deutsches Flugzeug mitnimmt. Bisher sind zwei gelandet und gestartet – ohne sie.

Sie versucht mit ihrem Begleiter deutsche Kontaktstellen zu erreichen: Die Schutzbedürftigen erreichen niemanden. Keiner gibt ihnen Auskunft, sie sind sich selbst überlassen, obwohl die Bundesregierung immer wieder betont, dass sie hilft. Sahar und ihr Begleiter kommen schließlich nach drei Tagen Tortur mit Hilfe der italienischen Regierung mit. Uns schickt sie noch ein Bild vor dem Flugzeug in Kabul.

Ihr Bruder Hamed hat es geschafft über seine Kontakte Sahar nach Rom zu holen. Und als Sahar in Rom landet, rennt Hamed los, damit er seine Schwester endlich in den Arm nehmen kann.

Autorin: Natalie Amiri, ARD München

Stand: 22.08.2021 20:35 Uhr

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