So., 23.06.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Argentinien: Milei macht Ernst
"Ich liebe es derjenige zu sein, der den Staat aushöhlt, der ihn von innen zerstört!" Vor allem schrill und laut ist Javier Milei. Der neue Präsident macht kein Hehl daraus, dass er das Land komplett umkrempeln will. Zehntausend von Beamten hat er bereits entlassen, den Staatshaushalt massiv zusammengestrichen. Sechs Monate ist der Libertäre Milei jetzt im Amt und seine Bilanz fällt gemischt aus: Die Inflation sinkt die Armut aber steigt. Mittlerweile leben über die Hälfte der Argentinier:innen unter der Armutsgrenze. Ein "Schocktherapie", so hat sie der Präsident angekündigt und das Land damit in Anhänger und Gegner gespalten.
Milei beschimpft die Universitäten
Eigentlich ist ihnen etwas Großartiges gelungen. Lorena Rojas und ihr Team können mit Enzymen Pestizide in Wasser unschädlich zu machen. Doch statt Freude: Erschöpfung. Anfänglich gibt die Regierung nicht genug Geld, um die Stromkosten zu bezahlen. Und noch immer werden die Gehälter von der Inflation aufgefressen, Stipendien sind gestrichen. "All die Energie, die wir in den Fortschritt unserer Forschung hätten stecken können, um weiter voranzukommen, den nächsten großen Schritt zu machen haben wir in die Suche nach finanziellen und personellen Ressourcen gesteckt."
Erstklassige, höhere Bildung, staatlich bezahlt – darauf ist man in Argentinien stolz. Jetzt ist die Unsicherheit groß, wie es mit der Finanzierung unter Milei weitergehen wird. Denn der beschimpfte Universitäten bereits als ineffizient, als Ort linker Gehirnwäsche. Für die Zukunft, für ausreichende Finanzierung, dafür protestiert Lorena im April, zusammen mit vielen hunderttausenden. Milei ist da gerade vier Monate Präsident. Der glaubt als libertärer allein an die Macht des Marktes, den Staat will er zerschlagen, verunglimpft alles Soziale. "Wissenschaft ist Fortschritt, sie ist das, was ein Land voranbringt. Und das ist was unser Land braucht."
Den Staat von innen zerstören
"Ich liebe es derjenige zu sein, der den Staat aushöhlt, der ihn von innen zerstört", so der argentinische Präsident. "El Loco" Als "der Irre" wird Milei berühmt. Mit einer "Schocktherapie" verspricht er Argentiniens wirtschaftliche Dauerkrise zu beenden. Und schreitet als Präsident umgehend zur Tat: "No hay Plata". Den Peso wertet er um mehr als 50% ab, streicht Subventionen und entlässt mehrere zehntausend Staatsangestellte. Die Lebenshaltungskosten schießen in die Höhe, der Konsum bricht ein, die Armut steigt. Die katholischen Universität Argentiniens stellt fest: mehr als die Hälfte der Argentinier lebt jetzt unter der Armutsgrenze. Mitgefühl? Fehlanzeige! "Die Kohle reicht nicht bis Monatsende", sagt ein Mann zu Milei bei einem öffentlichen Auftritt. Seine Antwort: "Dann wären sie an Hunger gestorben."
Die Bevölkerung zahlt einen hohen Preis. Milei aber verweist auf seine Erfolge: die monatliche Inflation fällt von 25% auf 4%, dazu der erste Haushaltsüberschuss seit Jahrzehnten. "Nichts von alledem wäre möglich, ohne die heldenhaften Mühen der meisten Argentinier, die gerade leiden, aber die wissen, dass dies der einzige Weg ist, wenn wir eine bessere Zukunft für unsere Kinder wollen."
Hoffen auf den Wirtschaftsaufschwung
Eine bessere Zukunft? Die Wirtschaftskrise ist dieselbe, doch im kleinen Örtchen Luque sind sie zuversichtlich. Die Hauptstadt ist mit 650 Kilometern weit weg, auch im Herzen. 9.000 Menschen leben hier, von Landwirtschaft und Industrie: Plastik, Beton und Elektrogeräte. Diego Viano ist hier Bürgermeister und gerne "nah bei den Menschen". Sein Ort wurde landesweit berühmt, weil hier 82% für Milei gestimmt haben, so wie er auch. Denn wenn der die Wirtschaft wieder auf Vordermann bringe, werden Luque und Argentinien durch die Decke gehen. "Trotz Krise hatten wir hier bis vor kurzem noch Vollbeschäftigung. Mit unserer Industrie, unserer Landwirtschaft mit all unserem menschlichen Potential, werden wir eine herausragende Gemeinde sein."
Seit Milei am Ruder ist, geht es auch im Ort turbulent zu. Alle Unternehmen berichten dem Bürgermeister von wirtschaftlichen Problemen. Hier werden Strommasten aus Beton hergestellt. Doch Milei hat alle öffentlichen Bauprojekte gestoppt. Die Aufträge fehlen. Der wichtigste Arbeitgeber in der Region, stellt Waschmaschinen her und hat im April wegen der Konjunkturflaute 200 Angestellte entlassen. Es wird restrukturiert. Auch beim Plastikfabrikanten sind die Anschaffungspreise gestiegen, die Nachfrage dagegen eingebrochen. Alle recken sich, um effizienter zu produzieren, Investoren zu finden. Ganz im Sinne des libertären Präsidenten. "Der Staat war sehr allgegenwärtig und das hat viele Menschen vermutlich daran gewöhnt, dass der Staat alle Probleme löst", sagt Bürgermeister Diego Viano. "Aber das ist nicht seine Aufgabe." Eigentlich ist Milei ziemlich schrill für das traditionelle Luque.
Milei als Vorbild der politischen Rechten
Das hier ist eine Buchvorstellung über Makroökonomie … aber warum nicht eingeleitet wie ein Rockkonzert? Milei mehr Frontman als Staatsmann. Seine Anhänger lieben die Show. Auch in Spanien rockt Milei. Sein Wahlsieg in Argentinien macht ihn international zum Aushängeschild und Vorbild der politischen Rechten und Ultrarechten. Im tobenden Kulturkampf gegen Gleichheit, gegen das Soziale. "Die Idee der sozialen Gerechtigkeit ist wirklich abnormal."
All das Extreme haben sie in Luque mitgewählt, ja. Aber darum ging es ihnen nicht. "Uns geht es gar nicht um das Rechte oder das Libertäre, sondern es geht uns um die gesellschaftliche Mitte mit einer Kultur der Arbeit, mit Engagement für das Land", so Bürgermeister Diego Viano. Auch Diego hat, wie so viele, den Gürtel enger geschnallt. Jedes Wochenende auswärts essen gehen ist nicht mehr drin. Und durch die hohen Lebensmittekosten kaufen die Kunden hier meist nur noch die Hälfte. Das Land ist polarisiert. In Luque spüren sie die Krise, doch die Hoffnung lässt sie und so viele Argentinier durchhalten: mit einem kollektiven Kraftakt ist das ewige Leid bald vorbei. In Buenos Aires ist Lorena Rojas skeptischer. Sie fragt sich: an was für einer Zukunft baut Milei. Viele fürchten, es wird ein anderes Argentinien, eines in dem nur der stärkere überlebt.
Autorin: Xenia Böttcher, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 23.06.2024 21:19 Uhr
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