So., 23.06.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Israel: Araber unter Generalverdacht
Sabreen Masarwi hat fünf Jahre lang an einer jüdischen Schule Arabisch unterrichtet. Bis Mitte Mai, dann soll Sabreen plötzlich nicht mehr in die Schule kommen. Fälle wie diese gibt es viele seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober. Sabreen ist eine der wenigen, die sich öffentlich äußert, darüber, wie sich die Stimmung gegen arabische Israelis immer mehr auflädt. Aufgeben will sie aber nicht. Sie überlegt, um ihren Job in der Schule zu kämpfen, denn: "die andere Seite muss mich kennenlernen."
Palästinenser werden an den Rand gedrängt
Die Fotos sind schon einige Wochen alt. Naser Odat bei den großen Demonstrationen, die jeden Samstag im ganzen Land Zehntausende auf die Straße bringen. Das Besondere daran: Naser ist Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit. Seit dem 7. Oktober engagiert er sich. "Seit diesem Moment weiß ich: ich muss da draußen etwas tun. Solidarisch sein. Und allen zeigen, dass Palästinenser keine Monster sind."
Nur wenige Wochen später. Samstagabend in Haifa. Gleich wird hier wieder demonstriert. Doch diesmal ist Naser nicht mehr dabei. Seit kurzem geht er nicht mehr hin. Denn als Palästinenser, sagt er, wird er zunehmend an den Rand gedrängt. "Wir fühlen uns mit der Nationalhymne, mit den israelischen Flaggen nicht wohl. Nicht aus antisemitischen Gründen, sondern aus sehr offensichtlichen und sehr grundlegenden Gründen: Ich bin Palästinenser. Meine Identität ist palästinensisch. Und dazu kommt: Diese Demonstrationen fordern nur die Freilassung der Geiseln. Wir hören kaum etwas über das Blutvergießen in Gaza. Wenn du heute dorthin gehst, wirst du keine Araber finden. Das ist besorgniserregend. Das zeigt uns, wie sehr Juden und Palästinenser in Israel voneinander getrennt sind. "
Leben mit zwei Identitäten
Sabreen Msarwi wollte immer diese Kluft überwinden. Sie unterrichtet Arabisch – an einer Schule mit fast ausschließlich jüdischen Schülern. Fünf Jahre lang. Bis Mitte Mai etwas passiert. "Ich habe das überhaupt nicht erwartet. Ich identifiziere mich als Palästinenserin, Bürgerin im Staat Israel. Als ich das Vorstellungsgespräch an dieser Schule hatte, war es mir wichtig, das meiner Schulleiterin zu sagen, und die hat mich trotzdem akzeptiert und mir gesagt: "Ich möchte, dass Sie hier arbeiten!"
Mitte Mai, gedenkt Israel den gefallenen israelischen Soldaten und Opfern von Terrorangriffen. Sabreen macht das gemeinsam mit ihren Schülern. Kurz darauf besucht sie mit ihren Kindern wie jedes Jahr eine Veranstaltung, die an die Nakba erinnert: die Vertreibung der Palästinenser. "Ich stand mit meinen Schülern Seite an Seite. Wir alle sind Opfer dieses Konflikts. Ich kann ihren Schmerz verstehen. Für mich war es selbstverständlich, dass ich am nächsten Tag mit meinem Volk zusammen sein kann. Aber die Reaktionen auf meine Teilnahme, die waren schwer für mich. Ich habe mir gedacht: "Du hast mich doch gestern gesehen und du weißt, dass ich mit diesen beiden Identitäten lebe!"
Auch das israelische Fernsehen berichtet über Sabreen – denn ihre Teilnahme an der Gedenkveranstaltung für Palästinenser hat Folgen. "Von der Schule hat niemand direkt mit mir gesprochen, ich habe erst später erfahren, dass Schulleiterin und Bürgermeisterin eine Nachricht an die Eltern geschickt haben: "Die Teilnahme der Lehrerin an dieser Veranstaltung in diesem Zeitraum sei nicht korrekt, das Bildungsministerium untersuche die Angelegenheit, die Lehrerin komme erstmal nicht zurück in die Schule".
Auch Palästinenser sind Teil des Staates Israel
Das Bildungsministerium entscheidet: Die Vorwürfe sind unbegründet. Sabreen könnte wieder unterrichten, doch sie zögert. "Ich hatte das Gefühl an einem Ort zu sein, an dem ich etwas verändern kann. Wir alle: Schüler, Eltern, Lehrer, haben uns sehr gemocht. Dass so etwas an dem Ort passiert, den ich so sehr mag, ist für mich schwer begreifbar. Darüber muss ich nachdenken. Versuchen zu verstehen, wie wir in diese Situation gekommen sind. Versuchen, nicht wütend zu werden. Ich lade die andere Seite ein, mich kennenzulernen. Sie muss mich kennenlernen, um mich zu verstehen und mich hören wollen. Damit sie ihre Meinung ändern kann. Denn sie hat ja Angst - nicht ich! Ich habe keine Angst, denn ich bin mir meiner Identität und meinem Platz in diesem Land sicher."
Zurück in Haifa. Die Demo beginnt. Nahezu ohne arabische Israelis. Es war nie leicht, aber jetzt sind sich die beiden Gruppen noch fremder. "Wir sind eine gemischte Stadt, mit Juden und Palästinensern", sagt Oren, "aber wir lernen immer noch in getrennten Schulen, wir sind kulturell getrennt. Solange das so bleibt, werden wir auch nicht gemeinsam demonstrieren." Naser war einer der wenigen Ausnahmen. Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit – mit fortschreitendem Krieg ziehen sie sich weiter zurück. "Schon davor habe ich mich nicht so sehr als Israeli gefühlt. Und jetzt fühle ich mich sehr, sehr abgekoppelt und sehr weit weg von dieser Identität. Ich bin nicht stolz darauf, ein Bürger Israels zu sein. Aber das bin ich eigentlich! und ich sollte die Verantwortung dafür übernehmen." Inzwischen organisiert Naser separate Demos, versucht, Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft eine Stimme in diesem Land zu geben. Denn auch wir sind Teil dieses Staates, sagt er.
Autorin: Nadja Armbrust, ARD-Studio Tel Aviv
Stand: 24.06.2024 13:20 Uhr
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