So., 23.06.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Land und Regierung am Ende
Der Wohlstand ist geringer, die Steuerlast hoch. Das tägliche Leben ist extrem teuer geworden. Die Bilanz der regierenden Tories ist dürftig. Geglänzt haben sie nur mit großen Versprechen und Skandalen. Und seit dem Brexit haben die Briten noch mehr Angst krank zu werden. Das staatliche Gesundheitssystem ist derart kaputtgespart, dass selbst Notfälle um Versorgung bangen und lebensbedrohliche Behandlungen nicht garantiert sind. Es ist das wichtigste Thema auf der Insel. Im Wahlkampf finden die Konservativen kaum noch Gehör. Ihnen droht nicht nur die Abwahl, sondern sogar eine historische Klatsche.
Langes Warten auf die Chemotherapie
Vor wenigen Wochen ist Nathaniel Dye den London Marathon gelaufen. Nun trainiert er für einen 100-Kilometer-Lauf. Eine Verschnauf-Pause lässt er sich nicht einreden. Der 38jährige will jede Minute seines Lebens nutzen. "Je fitter und stärker ich bin, desto mehr Chemotherapie kann ich durchstehen. Ich möchte einfach glauben, mit jedem Lauf gebe ich mir einen Tag mehr für die Nadel im Arm." Nathaniels Geschichte ist ein Drama. Aber gleichzeitig, die neue Realität im Vereinigten Königreich.
Anderthalb Jahre ist es her, da bekam er die Diagnose Darmkrebs. Die Ärzte machten dennoch Mut. Gestreut habe er kaum. Mit Chemotherapie gäbe es Aussicht, dass der Krebs verschwinde. "Ich dachte, lasst uns loslegen. Ich habe Krebs. Da ist Zeit doch entscheidend. Ich musste dreieinhalb Monate, 100 Tage warten. Zwei Monate ist laut Vorgabe das absolute Maximum sein. Es ist also klar, dass ich zu lange warten musste." Während er warten musste, streute der Krebs. Seine Heilungschancen – nun nur noch minimal.
Jedes Mal, wenn er zur Chemotherapie geht, treffe er auf hilfsbereite, aber ausgelaugte Krankenhausmitarbeiter, erzählt Daniel. Das staatliche Gesundheitssystem NHS gilt seit Jahren als kaputtgespart und vernachlässigt. Es fehlen Ärzte und Pflegekräfte. Siebeneinhalb Millionen Briten warten nun auf Behandlungstermine, Operationen und Therapien. Wie Chemo. Nathaniel ist in großer Gesellschaft. Der Gesundheitsdienst ist für die Briten das zentrale Thema bei der Wahl. Sie haben schier Angst, krank zu werden. Seine Chemo schlägt gut an. Sie verschafft ihm Zeit. "Wenn die Behandlung früher begonnen hätte, dann hätte ich den Krebs wohl auch besiegen können."
Große Unzufriedenheit mit den Konservativen
Den Wahlkampf verfolgt Nathaniel genau. Die konservative Partei von Premierminister Rishi Sunak regiert seit 14 Jahren, hat stets Verbesserung versprochen. Herausforderer Keir Starmer von der Labour Partei hat sichtlich leichtes Spiel. "Es ist unverzeihbar, was mit dem Gesundheitsdienst passiert. 14 Jahre zu regieren, und ihn derart runterzuwirtschaften ist nicht hinnehmbar." Amtsinhaber Rishi Sunak entgegnet: "Der Gesundheitsdienst ist bei mir in besten Händen. Dafür werde ich mich immer einsetzen. Jeder soll sicher sein, dass ihm auch geholfen wird, wenn er Hilfe braucht." Nathaniel unterstützt aktiv die Labour Partei. Um die Tories loszuwerden.
Jacob Rees-Mogg ist auf Stimmenfang für die konservativen Tories. Manch einer kennt ihn vielleicht. Seine Leidenschaft für den Brexit hat ihn zu manch kühnem Versprechen verleitet. Großbritannien stehe vor einer glanzvollen Zukunft. "Ich wollte mal fragen, ob ich auf Ihre Unterstützung setzen kann." "Ich bin da unentschieden." Seinen Wahlkreis im englischen Somerset hat er bisher immer gewonnen. "Kann ich auf Ihre Unterstützung hoffen?" "Diesmal nicht." "Würden Sie mich wählen." "Ich denke ja." "Die meisten denken leider, wir regieren seit 14 Jahren und nun ist auch mal gut", sagt Jacob Rees-Mogg. "Ich habe immer konservativ gewählt", sagt eine Anwohnerin. "Das bereue ich. Wie Sie sich benehmen. Das repräsentiert mich nicht mehr."
Im konservativen Wahlkreis von Jacob Rees-Mogg ist die Stimmung gekippt. Auch weil die Tories chaotisch mit der Wirtschaft umgegangen sind. Das merken viele im Portemonnaie. Das allgemeine Gefühl: Uns geht es schlechter als vor 10 Jahren. "Die Lebenshaltungskosten sind exorbitant geworden. Die Löhne ein Witz", erregt sich die Friseurin Rachel Taylor. "Wer kann denn seine Rechnungen noch bezahlen." Auch im Hundesalon von Kate – bisher konservative Wählerin – herrscht im Team Wechselstimmung. "Wir wurden ganz schön im Stich gelassen in den vergangenen Jahren", meint Hunde-Pflegerin Kate Hornby. "So viele Versprechen, die nicht eingetreten sind. Und die Staatskassen sind leer. Irgendwie ist nichts gut."
Gute Chancen für Herausforderer Keir Starmer
Die Anti-Tory Stimmung ist sein größter Trumpf. Labour Chef Keir Stamer – ein ehemaliger Staatsanwalt. Sein Programm ist, die Wirtschaft anzukurbeln. Ansonsten spart er mit großen Versprechen. Seit vier Jahren ist er schon Oppositionschef. Und wie hier in Barsingstoke werden die Briten ihn wohl zum nächsten Premierminister wählen. Was immer wieder erstaunt: Wie wenig sie über ihn wissen. "Eigentlich weiß ich nur, dass er der Chef ist. Mehr nicht." "Er scheint nett zu sein. Und er wirkt anständig." "Aber ich wähle ihn." "Er ist ok. So ganz genau weiß ich auch nicht, was er groß machen wird. Aber ich stimme für ihn."
Die Konservativen sind in den vergangenen Jahren weit nach rechts gerückt. Jacob Rees Mogg würde gerne mehr über Migration sprechen. Nur wenige mögen überhaupt noch zuhören. "Als Politiker sage ich den Ausgang der Wahl nicht voraus. Wir können ja nur an Türen klopfen und überzeugen. Natürlich kämpfen wir, um zu gewinnen." Laut Umfragen droht eher eine historische Schlappe. Es sieht nach einer Quittung aus.
Autor: Sven Lohmann, ARD-Studio London
Stand: 23.06.2024 21:50 Uhr
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